Der mit dem Warenfetisch tanzt

Christian Rakow, nachtkritik, 2009-12-17

West in Peace – andcompany&Co. zelebrieren Karl Marx und Karl May

Berlin, 17. Dezember 2009. Nicht gerade der ideale Ort für Dauercamping: an einem kleinen Teich, im Schatten des Atomkraftwerks, irgendwo nahe der polnischen Grenze. Aber die Camper, die wir hier aus ihren Zelten krabbeln sehen, sind auch alles andere als idealtypische ostdeutsche Wildnisfreunde. Sie heißen Crazy Horst oder Little Rat. Und sie wollen mit uns ihre vornehmste Leidenschaft teilen: ihre Lieblingsbücher von Karl May oder Karl Marx.
Es könnte ein einfacher Campingtrip sein, mit etwas Indianerromantik, die man – wie soeben aus Leipzig von Rainald Grebe zu erfahren – in Ostdeutschland liebte. Aber wer sich schon einmal zum Frankfurter Performancekollektiv andcompany&Co. begeben hat, in ihre so heimwerkerartig anmutenden Flachbildwelten, mit Papierschnittkulissen hüben, Percussion-Utensilien drüben, der weiß: Auf eine lockere Erinnerungstour geht es hier nicht.

Wenn das Gold rauscht

Dieser "Western von gestern", den andcompany&Co. in losen Erzählfetzen, mit klang- und assoziationsfreudigen Sprachspielen und Performanceeinlagen in unseren Köpfen aufleben lassen, führt nicht nur ins deutsch-polnische Grenzland, wo die Wölfe heulen und die Hitlersche Wolfsschanze ruht. Das Grenzland entpuppt sich als mythisches Nirgendwo zwischen Ardistan, dem Flachland der Geringen und Selbstsüchtigen, und Dschinnistan, der Hochebene der Edlen und Aufwärtsstrebenden.
Auf der Wanderkarte des Philosophen dürfte diese Goldgräberfahrt ins "El Dorado" also irgendwo im gut verminten Todesstreifen zwischen Materialismus und Idealismus verlaufen – dort, wo man gern ein aufrechter Humanist (oder vielleicht gar Sozialist?) wäre, tatsächlich aber doch nur ein egoistischer Konsument und Nutznießer des Kapitalismus bleibt.
Bei aller wohltuenden Verspieltheit ist dieser Abend im Kern also betont philosophisch. Denn wer vom großen Goldrausch erzählen will, der muss mindestens auch ein Konzept davon haben, was denn da genau rauscht.

Ein Eastern von Gestern

Und also rücken die fünf Performer Sarah Günther, Alexander Karschnia, Nicola Nord, Sebastian Šuba, Sascha Sulimma&Co. mit dem Klassiker zum Thema an: Marx‘ Theorie vom Warenfetischismus. Der Mensch beutet die "Eingeweide" der Erde aus, heißt es da, er birgt Gold und Silber. Und wozu? Auf dass es zu Geld gemünzt werde und fortan die Kraft besitze, ein jedes Ding zur abstrakten Handelsware zu verwandeln. Im Geldverkehr verschwindet die konkrete Arbeitsmühe, die Gebrauchsdinge anfertigt, und übrig bleibt die große Lust an Tausch und Konsum: der Wille zum Fetischdienst an immer neuen Waren.
Vor einigen Dekaden, als man noch unter der Schirmherrschaft von DKP und SDS in Lesezirkeln über dem Marx’schen "Kapital" brütete, hätten diese Passagen wohl Gähnen hervorgerufen. Aber heute? Da ist der Rückgriff auf einen der klassischsten aller "Eastern von Gestern" schon wieder innovatorisch. Besonders in der Art, wie andcompany&Co. ihn anpacken. Marx wird auf seine Rhetorik hin ausgeschlachtet, und das Verblüffende ist: die Eingeweide geben noch was her.

Mit Pollesch-Tempo

Da trägt ein Zwerg in Zaubererkluft als fleischgewordene Fetischismus-Metapher die einschlägigen Stellen aus dem "Kapital" vor und rundherum tanzen die Performer unter Masken, die mit Trabi-, Fernseher- und Stereoanlagen-Piktogrammen bemalt sind, den Tanz der "verrückten" Waren: Die Goldgräber werden mit den Marx’schen "Totengräbern" des Kapitalismus (den Arbeitern) assoziiert. Dazu rauschen die aus altlinkem Diskurs gespeisten Hirnströme: "Petting statt Pershing", wird gereimt und "Schießt die Nazis auf den Mond – das ist Raumfahrt, die sich lohnt!"
Wie bei Pollesch sitzen die Performer aufgereiht und bringen ihren Diskurs auf Touren. Überhaupt kreisen sie munter im Theaterorbit. Gerhard Stadelmaiers "grenzdebiles Hasentheater im Rammelbammel-Brüllstil" – wie der Theaterkritiker der FAZ zu einer Inszenierung von Karin Henkel am Deutschen Theater einst schrieb – wird schonungslos, wenngleich ungebrüllt, inszeniert. "Ihr seid die Krisenburg" grüßt man indirekt das Deutsche Theater. Und nachtkritik haben sie anscheinend auch verfolgt: "Das sind doch alles Zahnärzte hier!" Überall schwirren Zitate; man kommt kaum hinterher.

Der Künstler als Totenausgräber

Der old school Marxismus um Georg Lukács hätte sie für diese Selbstreferenzen und die ganzen Wortspielchen, die teils in die Nähe von DADA rücken, als Formalisten abgeurteilt. Denn das freie Spiel der Zeichen galt damals selbst als Symptom einer fetischisierten Gesellschaft. Die Zeiten haben sich nicht geändert, nur weiß der Kapitalismus mit seinen Kritikern bestens umzugehen. Er saugt sie ein. "West in Peace" – ruhe in Frieden. Aber die Künstler buddeln wieder aus. Tatsächlich zeigen andcompany&Co ein politisches Theater auf der Höhe unserer Zeit. Sie machen sich selbst zum schrägen, bisweilen berückenden Ausdruck unserer Konsumkultur, die nur die größten Optimisten (Frederic Jameson etwa) als Spät-Kapitalismus ansprechen.
"Spiel mir das Lied vom Tod des Kommunismus". Die jüngsten, ähnlich gelagerten Arbeiten, aus denen "Mausoleum Buffo" zum Festival Impulse 2009 eingeladen wurde, waren in ihrer futuristischen Anmutung sicherlich einprägsamer. Mit Campingflair und Indianerkostümen steckt dieser Abend anfangs in der Niedlichkeitszwinge und braucht Zeit, bis er seine gedankliche Schärfe entwickelt und überbordend wird. Dann erst setzt das Glücksgefühl ein: das Gefühl echter, ästhetischer Überforderung. Das Gefühl, dass hinter dem Seherlebnis ein denkenswerter Gedanke wohnt.

P.S.: "West in Peace" ist eine Koproduktion von Hebbel-am-Ufer Berlin, FFT Düsseldorf, Pumpenhaus Münster und Goethe-Institut Warschau. Und ihre eigene Finanzierungsidee haben die Performer auch mitgebracht: Drei Mal läuft der Abend erst weiter, nachdem jemand aus dem Publikum einen Euro in eine Sammelbox geworfen hat. "In diesem Western ist alles erlaubt, außer kein Geld zu haben". Da können wir jetzt kalkulieren: Bei ca. 60 Zuschauern im vollbesetzten HAU3 und einem durchschnittlichen Kartenpreis von 8 Euro liegt die Preissteigerungsrate damit bei 0,625 Prozent. Natürlich nur auf das gesamte Zuschauerkollektiv berechnet.

nachtkritik

Selberdenken macht klug

Doris Meierhenrich, Berliner Zeitung, 2009-12-19

Neues von Karl Marx: andcompany & Co. mit "West in Peace" im HAU 3

Waren Indianer die besseren Kommunisten? Und wohnen sie heute alle in der Schweiz? Aber reiten sie nicht seit jeher von Bad Segeberg aus gegen den Kapitalismus? Oder reiten sie für ihn? Fragen, die sich die fünf Cowboy-Indianer des Performance-Kollektivs andcompany & Co. an die Köpfe werfen, während sie auf ein Lagerfeuer aus Glühbirnen starren. Sie haben im HAU 3 ihr Zeltlager aufgeschlagen und mit ihm eine wilde Papplandschaft aus Saloon-Interieur, AKW-Gelände, Eisenbahn-Wasserstation, Marterpfählen, an denen Geldbeutel wachsen. Und natürlich bleiben alle Lagerfeuer-Fragen unbeantwortet. Stattdessen geht immer wieder das Licht aus und ein Geldeinwurfautomat blinkt zum erneuten Einwurf eines Euro auf, damit das witzig-dämliche Karl-Marx-Karl-May-"Rüberauschtheater" weiter gehen kann.

Mit "West in Peace" versuchen andcompany & Co. das, was sie seit ihrer Gründung 2003 eigentlich in jedem Projekt betreiben, nämlich eine Relektüre des Marxschen "Kapitals" und anderer sozialistischer Gründungstexte unter Zuhilfenahme einer ganzen Spielkiste aktueller, geschichtlicher, literarischer Bausteine als Verfremdungseffekte. Diesmal wäre der Begriff "Tarnung" angebracht, wären nicht alle Zuschreibungen, die man diesem extra trashigen, extra kindlichen Anreißtheater gibt, unzutreffend. Denn "West in Peace" will gar nichts anderes sein als ein abgehalfterter "Western von gestern" im Grenzland zwischen dem bösen "Ardistan" (West) und dem geheimnisvollen "Dschinnistan" (Ost), in dem sich der Ramschkapitalismus von gestern, heute und morgen spiegelt und zugleich die Verheißung einer anderen, idealen Kommune aufscheint – was schon tausend Mal so geschehen ist. Andcompany & Co. Abgestandenes vorzuwerfen, ist deshalb eigentlich sinnlos.

Und dennoch muss man es tun. Denn was ihr Collage-Theater eigentlich vorhat, nämlich durch das ungeordnete Gegeneinanderschießen geistes- und kulturgeschichtlicher Fragmente, Gegenwart und Geschichte neu zu denken, vollzieht sich hier kaum. Der ganze Abend schnurrt so ab wie die Szene des Cowgirls Red Rat, alias Nicola Nord, die einen Ball gegen einen Gong werfen will, doch immer wieder nur die Luke daneben trifft, aus der dann – wie der Kuckuck aus der Wanduhr – ein Cowboykollege schnellt und schimpft: "What the hell!". Er könnte auch gleich rufen: "Think yourself!". Doch solche Direktheit verbietet sich, obwohl es sonst recht grob zugeht im Camp.

Dennoch kann auch dieses Automaten-Theater witzig sein. Dann nämlich, wenn Nicola Nord plötzlich als Fremdenführerin durch diverse Hitlerbunker und "Bunker in Bunkern" führt, wobei sie ihre löchrige Führungs-Rede gespickt mit Schlagwörtern wie "Stahlnetz", "Beton" "am sichersten" immer wieder mit dem pädagogischen Warnruf "Hallo!" unterbricht und damit das Publikum selbst zum Mitdenken ihrer Sicherheitsgrenzen antreibt.
 

Berliner Zeitung

Assoziativer Sekundenkleber: "West in Peace" im Hebbel am Ufer

Patrick Wildermann, Der Tagesspiegel, 2009-12-21

Was hat Karl Marx mit Karl May gemeinsam? Nun, wahrscheinlich genau so viel wie Lenin mit Lennon. Aber das heißt ja nicht, dass die prägenden Köpfe aus Pop und Politik in den Inszenierungen des Performance-Kollektivs andcompany & Co nicht Blutsbrüderschaft schließen könnten, meist im Zuge einer fidelen Splatter-Orgie aus dem Zombieland der Ideologien. Die Spezialität der internationalen Truppe, die soeben mit ihrer Arbeit "Mausoleum Buffo" zum Impulse-Festival eingeladen war, ist es, die großen Untoten des 20. Jahrhunderts mit dem assoziativen Sekundenkleber aneinanderzuleimen und aus den schiefen Bildern so irrlichternde wie erhellende Kontexte entstehen zu lassen — es gehört zusammen, was nicht zusammenwächst. Auch in ihrer jüngsten Arbeit "West in Peace oder Der letzte Sommer der Indianer" im HAU 3 mixen die Performer um Mastermind Alexander Karschnia, ausgehend eben von May und Marx, einen sozialistisch-kapitalistischen KalauerClash, schlagen ihr Diskurslager irgendwo im geistigen Grenzgebiet zwischen der Ware Westen und dem wildem Osten auf. "Mausoleum Buffo" war zwar im Vergleich die stärkere Arbeit, aber auch "Der letzte Sommer der Indianer" – neben Karschnia von Nicola Nord, Sarah Günther, Sebastian Suba und Sascha Sulimma ersonnen und gespielt — ist eine vor Phantasie überbordende Kurzschluss-Extravaganza, die über polnische Westernstädte zu verschiedenen Herrschaftstheorien führt, von Joschka Fischers Turnschuhen zu Klaus Kinskis Erlöser-Auftritten. Und die wiederum, in ironieerprobter Agit-Prop-Manier, die Frage stellt, was von den Idealen übrig blieb.

 

Der Tagesspiegel

Zu Besuch bei polnischen Cowboys

Sonderseiten der Berliner Bühnen, Berliner Zeitung, 2009-11-27

Ein Gespräch mit Alexander Karschnia von andcompany&Co. über "West in Peace oder der letzte Sommer der Indianer".

Wie kommt man darauf, sich mit Cowboys in Polen zu beschäftigen?

Wir haben uns gefragt: Wie weit reicht der Westen heute? Wir wollten das Ei des Kolumbus auf den Kopf stellen und haben den Westen im Osten gesucht und gefunden und zwar in Polen. Polen ist heute tiefster Westen! Aber vielleicht muss man mittlerweile ebenso von einem "früheren Westen" sprechen wie man vom "früheren Osten" spricht. Es waren ja auch polnische Cowboys, die den Eisernen Vorhang zum Einsturz gebracht haben! "High Noon" war am 4. Juni 1989: In Peking rollten Panzer, in Polen Köpfe, als dort zum ersten Mal frei gewählt wurde. Seit letztem Sommer erinnert daran ein gigantischer Gary Cooper im Berliner Hauptbahnhof, in der Hand einen Wahlzettel statt des Colts, hinter ihm weht die Solidarnosc-Flagge. Das war das historische Wahlplakat und ist heute eine Ikone für den Sieg im Kalten Krieg. Das Ende des Kommunismus war jedoch gestern, heute trainieren nordamerikanische Indianer polnische Grenzschützer im Fährtenlesen, um die vereinigten Staaten von Europa gegen Schmuggler und Flüchtlinge abzusichern. Zu dieser Grenze sind wir gefahren, denn sie verläuft mitten durch den einzigen verbliebenen europäischen Urwald. Dort leben Bisons in freier Wildbahn: Tatanka!

Wie sieht ein Indianerdorf in Brandenburg aus?

Ob in "El Dorado" bei Templin oder "Mrongoville" bei Mragowo – man erlebt "Abenteuer wie im Film": Postkutschenraub und Schießereien auf offener Straße, Gefangenenbefreiung und die Blutsbrüderschaft zwischen einer Rothaut und einem Bleichgesicht. Wie das weit verbreitete Wild-West-Hobby in Ost und West beweist, waren Indianer ja schon immer sehr beliebt in Deutschland, egal ob sie von Pierre Brice oder Goijko Mitic verkörpert wurden. "Deutscher sein heißt Indianer sein" hat Heiner Müller einmal gesagt, nach der Wende galt das besonders für Ostdeutsche. Das gesamte Gebiet der Ex-DDR wurde zum El Dorado für Westler, heute denken Politiker offen darüber nach, aus weiten Teilen Brandenburgs einen Naturpark zu machen, in dem Bisons weiden und Wölfe aus der Lausitz ausgewildert werden. Blühende Landschaften, von denen sich die ostdeutschen Indianisten nie haben träumen lassen . Für uns gehören Saloon und Hippie-Tipi zusammen: Das eine ist ein heroisches Bild für die "Anarchie des Marktes", das andere eine romantische Vorstellung von der Rückkehr zur Natur. Während Karl May unser Bild des "edlen Wilden" prägte, hat Karl Marx den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern als Teil jener "ursprünglichen Akkumulation" gedeutet, die die Grundlagen für die moderne Welt gelegt hat. Uns hat die Hartnäckigkeit dieser Freiheitsfantasien interessiert, wobei polnische Cowboys und ostdeutsche Indianisten nur ein besonders ausgefallenes Beispiel sind. "Falsche Indianer" tauchen jedoch immer wieder in der Geschichte auf, nicht nur bei der Boston Tea Party, wo die Kolonisten den britischen Tee in die See gekippt haben. Solche Partys finden immer wieder statt, allerdings folgt daraus nicht immer die Gründung einer Republik. Oft handelt es sich einfach nur um die Vernichtung von Gütern zur Aufrechterhaltung eines Wirtschaftssystems, das sich angeblich ganz von selbst regelt, beziehungsweise durch eine unsichtbare Hand. Vielleicht ist ja dieses Wirtschaftssystem selbst auch nichts weiter als ein Western von gestern.

Und wie sieht Ihre Bühne aus? Was passiert in "West in Peace"?

Wir haben eine ungewöhnliche Westernkulisse aufgebaut: Wir campen auf der Bühne zwischen einem Friedhof, Saloon und AKW. Es wird um die Wette gezockt, bis ein Sturm alles verwüstet – wie in Bert Brechts Stadt Mahagonny. Western sind die Raubritterromane der Neuzeit: Während Don Quichotte nur noch eine komische Figur ist, sind Winnetou und Tecumseh jedoch wirklich tragische Gestalten. Freilich trifft Brechts Kritik am kannibalischen Genießen von tragischen Schicksalen Anderer im Theater besonders zu, wenn sich weiße Europäer in rote Heldenhäuptlinge einfühlen. Deswegen verhandeln wir neben dem Kapitalismus den Kannibalismus gleich mit: "Menschenfressermenschen" (Rio Reiser). Außer Karl May & Karl Marx und zahlreichen Spaghetti-, Baguette- und Sauerkraut-Western haben wir auch Material aus Chatrooms und Internetforen verarbeitet, in denen in Wild West Manier die brennenden Probleme unserer Zeit zur Sprache gebracht werden, das heißt die Frage, ob 20 Jahre nach dem Fall der Mauer nun auch das andere System hinüber ist. Ist das nun die Apokalypse oder einfach das Ende einer Party? Come and see!

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Prasselnder Assiziationsregen

Maria Berentzen, Ibbenbürener Volkszeitung, 2010-05-10

Münster – Das Pumpenhaus liegt in Dunkelheit. „Abenteuer wie im Film, Ausraster wie im Fernsehen gibt es für nur einen Euro“, verkündet einer auf der Bühne. Im Dunkel leuchtet prompt ein Euro-Zeichen auf, darüber blinkt ein roter Pfeil. Sonst nichts: Nichts geschieht, minutenlang. Ratlosigkeit macht sich breit. Man hört im Zuschauerraum Münzen klappern, schließlich steht einer auf und wirft Geld in die Konstruktion: Und tatsächlich, das Licht geht an, das Stück kann beginnen.

Und was für ein Stück von „andcompany&Co“: Karl May trifft hier symbolisch auf Karl Marx, Ost und West prallen aufeinander – und alle bekommen ihr Fett weg. Indianer in bunten 80er-Jahre-Leggings tummeln sich auf der Bühne, lassen es gleich so viel Reis regnen, dass die ersten Zuschauerreihen reichlich davon abbekommen – und das alles im Schatten eines polnischen Atomkraftwerks. „Ist das hier Western von gestern?“ kalauern die Indianer, und wenn einer stirbt, quellen statt Gedärmen massenweise Möhren aus den Bäuchen.

„West in peace oder der letzte Sommer der Indianer“ ist ein wieselflinkes Assoziationsspiel, ein blitzgescheite Verquickung von Gedanken, nicht nur der von Marx oder May. Hier muss man immer auf der Hut sein, um keine Andeutung zu verpassen. So zerstört hier ein Zen-Meister in Anspielung auf Nikel Pallat („Ton Steine Scherben“) einen Tisch, der sich allerdings als unkaputtbare deutsche Eiche entpuppt. Dann wieder bevölkern Wölfe die Bühne, streifen mit gefletschten Zähnen umher. Und während man sich noch fragt, ob der Mensch des Menschen Wolf ist, befindet man sich unversehens auf der Wolfsschanze und besichtigt Hitlers Bunker. Dazwischen sinkt immer mal einer der Indianer nieder, von Pfeilen getroffen, an denen Botschaften wie „Tofu ist Menschenfleisch“ prangen.

Dass nur Karl May und Hegel existieren, und alles andere nur eine unreine Mischung aus ihnen sei, wie eine der Schauspielerinnen vermutet, ist eine These, die Karl Marx ausklammert. Eine andere hingegen bringt die beiden Karls zumindest inhaltlich zusammen: „Karl Marx führte Menschen vor, wie sie wirklich sind – sich selbst liebevoll skalpierend.“ Für den humoristischen Brückenschlag gab es reichlich Beifall.

Ibbenbürener Volkszeitung

FFT: Tanz den Warenfetischismus

Stephanie Becker, RP Online, 2010-05-17

Ein paar Indianer-Dauercamper haben es sich im Schatten eines Atomkraftwerks gemütlich gemacht. Mit Handstaubsauger und Heckenschere sorgen sie für Ordnung auf ihren Grundstücken. Der Friedhof ist nebenan, aber im Saloon "El Dorado" sorgt der Totengräber für Stimmung. Wenn die rote Sonne hinter dem AKW versinkt, machen sich die letzten Indianer am Glühbirnen-Lagerfeuer so ihre Gedanken.

Wer das Theaterperformance-Kollektiv andcompany&Co kennt, ahnt natürlich, dass es hier nicht um Winnetou-Romantik geht. "West in Peace", zu sehen im Forum Freies Theater, will vielmehr abrechnen: mit dem Kapitalismus, Karl Marx, Karl May und der deutschen Geschichte. Und dies geschieht mit der gewohnten Mischung aus Trash, philosophischen Ansätzen, Popkultur und einem dichten Textgeflecht aus bekannten Zitaten. Da ziehen sich die Performer bemalte Pappkartons mit Trabi, Fernseher und Musikanlageüber den Kopf, um den Waren-Fetischismus-Tanz zu tanzen. Und sie stellen sich wie Mitglieder einer Rockband auf und singen: "Macht kaputt, was euch kaputt macht."

Es ist eine rasante Revue aus Bild-, Text- und Musikzitaten, die manchmal allzu schnell vorüber rauscht. Und mehr als eine ironische Aneinanderreihung verschiedenster Statements kommt am Ende auch nicht heraus. Dies aber in einer überaus intelligenten, unterhaltsamen und humorvollen Art und Weise.

RP Online

Sinn und Unsinn liegt nah beieinander

Rainer Wanzelius, Der Westen, 2010-11-03

Dortmund. Während die rote Sonne, vielleicht zum letzten Mal, hinter dem Atomkraftwerk versinkt, spielt eine Handvoll Künstler auf Brettern, die manchmal die Welt bedeuten – ja, was? Sie spielt Indianer.

Das ist nicht schlimm, Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, hat ja auch mit Indianer-Fantasien angefangen.

Hier heißen die Akteure andcompany&Co, also nicht End-Company (oder doch?), das Theater, in dem sie spielen, ist das im Depot an der Immermannstraße, der Auftrittsanlass das Festival favoriten2010. Bei dem hat andcompany vor zwei Jahren sogar einen Preis erspielt. Damals hieß das Stück „little red“. Dieses hier ist „West in Peace“. Oder eben: der letzte Sommer der Indianer.

Es beginnt holprig

Es beginnt holprig, kuddelmuddelig irgendwie, merkwürdige Masken und Kostüme. Chaotisch, doch voll unerklärlicher Komik, vorausgesetzt, man akzeptiert diese Ästhetik einer scheinbar ungewollten Disziplinlosigkeit auf der Bühne. Zelte wie hingeworfen, Western-Bar „El Dorado“, weiße Pappen als Kulissen (das Akw), ein Sarg als Pforte. Ach ja, das Spiel kann überhaupt nur starten oder weitergespielt werden, wenn jemand aus dem Publikum mal ‘nen Euro in den Automaten tut.

Isolierte Zutaten, doch langsam wird ein Zusammenhang, ein Thema, ein Stück daraus. Die Indianer sind nicht irgendwelche, sondern die, von denen die Ossis geträumt haben. Also Ideologie-Indianer. Aber war nicht Karl May auch einer? Ein Ossi, meine ich.

Und der andere Karl, der Marx? Der kommt als Riesengartenzwerg angerutscht (oder besser als Riesengartengnom, da ist ein Unterschied, aber welcher?). Er erzählt, leicht genervt, was vom Wert der Waren, was von Geld und Gold (das immer Nazi-Gold ist) — oder war das vielleicht doch der May? Egal, im Ensemble um Alexander Karschnia weiß man das auch nicht so genau.

Es wächst mehr und mehr zusammen

Mehr und mehr wächst dafür zusammen, was zusammengehört. Das beginnt mit zahlreichen Wiederholungen einzelner Momente, Theater wie aus dem Automaten eben, und führt zu zwei großen Szenen von bleibendem Wert beziehungsweise Unwert.

Das eine ist eine große Wolfsschanzen- und Hitler-Tourismus-Szene mit O-Ton polnischer Reiseführer, zufällig aufgeschnappt während eines Theateraufenthaltes in Masuren. Die andere Szene, eine Sprechcollage, besteht aus einer Reihe alter Polit-Parolen der 68er-Zeit – „Wer hat uns belogen? Sozialpädagogen!“ Andcompany verfügt über eine beachtliche Sammlung solche Sätze, ist aber dankbar für jeden neuen Zu-Spruch. Allein dieses Material könnte einen eigenen Abend füllen.

Eine fast flüchtige Botschaft

Sinn und Unsinn immer nah beieinander. Ein schüchtern erhobener Zeigefinger, eine klitzekleine, fast flüchtige Botschaft dann aber doch, ganz am Ende. Die Vergangenheit. Eine Handlungsanweisung, hilfreich fürs Anpacken der Zukunft, lernen wir, ist die Vergangenheit nicht.

Aber als Erinnerung, immerhin das, taugt sie sehr wohl.

Hat Spaß gemacht.

Der Westen

Wer anderen eine Grube gräbt, ist selbst ein Hase

Katja Grawinkel, schoenschrift.org, 2011-02-09

Andcompany&Co. schlagen Kapital aus Marx und May

Im Wilden Westen haben die Totengräber die Hosen an. Kapitalismusflüchtlinge haben hinter’m AKW nichts verloren, außer es handelt sich um deutsche Dauer-Camper im Goldrausch. Wer anderen einen Pfeil durch’s Herz jagt, muss die Konsequenzen tragen und schon sehr bald selbst dran glauben. Indianer kennt kein’ Schmerz. Karl M. – Karl May – Karl Marx…

Wer behauptet, man könne in Zeiten der Krise, sein kapitalismuskritisches Zelt im Vorgarten des Off-Theaters aufschlagen und von dort aus um jeden Zweifel erhabene Performance-Kunst Richtung Sonnenuntergang reiten lassen, der macht sich lächerlich. Die Performer von Andcompany&Co. behaupten das nicht, campen im HAU und machen sich stattdessen lustig. Über die Zahnarzt-Dichte im nur scheinbar links-intellektuellen Publikum. Über Steuerflüchtlinge im letzten Loch von Schweizer Käsespezialitäten. Über Fernsehpfarrer, Vegetarismus, Protestkultur.

Die Gruppe um Nicola Nord nimmt das Publikum in “West in Peace oder der letzte Sommer der Indianer” für nur einen Euro (und dann noch einen und noch einen…) mit auf einen Campingtrip ins deutsche Hinterland. Hier tummeln sich Zwitterwesen aus Westernheld und Ost-Klischee, Gnome und Kaninchen. Man streitet sich, ob Gurkensalat kapitalistisch oder sozialistisch besser schmeckt und schon bei Sonnenaufgang liegt schwadenschweres Halbwissen aus der Marx- und May-Lektüre in der Luft.

Weil alle Vegetarier sind, kommen die Hasen nicht auf den Tisch, wie es sich gehört, sondern schön postdramatisch aus jeder Ritze des (fantastischen) Bühnenbildes, von wo aus sie bühnenreife Choreografien tanzen oder als Metapher dienen – nur für was? War da nicht was in Matrix? Donnie Darko? Oder bei dieser Alice…? Keine Zeit für Spekulationen – im Notfall sind sie “die hässliche Fratze des Kapitalismus”. (Oder die neuen Orangen auf deutschen Bühnen?) Und wenn es dunkel wird, liefern sie sich mit Fernseh-Gespenstern Floskelschlachten am Tresen des „El Dorado“. Noch Fragen?

Wenn die Companions ihre Revue aus Musik, Geschichte(n) und Gesellschaftsspiel passieren lassen, erfährt man (nicht) was Tofu mit Menschenfleisch und Kapitalismus mit Kanibalismus verbindet. Aber man darf raten. Ist es der lang schon verdächtige Neoliberalismus – oder doch der schnöde Wortwitz?

Man reitet im Track von Berlin Mitte über Radebeul zur Wolfsschanze nach Polen, wo der Führerbunker-im-Bunker steht. („Hallo, halloo!“) Zwischendurch wirft man ein weiteres Geldstück in den Schlitz, den Nabel des kulturbetrieblichen Dilemmas: Selbst die kritischste Kunst hat ihren Preis. Und hat man ihn einmal gezahlt, kann man sein Recht auf Unterhaltung geltend machen. Zur Not auch mit der Kettensäge. Aus Winnetous abgeschnittenen Zöpfen tropft dann kein Blut sondern Theaterschminke. Die ist auch schön rot. Die Eingeweide der Verblichenen sind strikt pflanzlich, weil Karotten – oder sie sind gleich genäht. Attrappe der Metapher. Klappe zu. Kennt ihr schon den…?

Am Happy End gibt’s immer noch keine Geschichte (und auch keinen Tod), dafür viel Protestpop. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ funktioniert in der Krise der Krise vielleicht nur mehr als neon-nostalgischer Abgesang mit mehr lachenden als weinenden Augen. Wenn selbst Anarchie sich reimt („Bambule Randale Linksradikale“) und die Intellektuellen ihre Schäfchen längst im Trockenen haben („Randale Bambule Frankfurter Schule“), werden wir verstehen, dass wir auch nach dem anhaltend ausbleibenden Systemcrash noch reichlich zu essen haben.

Andcompany & Co. machen Kapitalismuskritik in der Komplexitätsschleuder. Zum Kranklachen komisch, ohne dass einem je das Lachen im Halse stecken bleibt. Es gibt alles außer Lösungen. Dem allgegenwärtigen Vorwurf, selbst ein Teil der Maschinerie zu sein, die Geld zu Kunst macht und Kultur zu Kapital, kann sich niemand entziehen. Glücklich, wer das ohnehin nicht vorhatte: “Ich fühle mich ganz wohl in meiner Krisen-Burg.” Applaus!

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