THEATER, POLITISCH

Alexander Karschnia, Negri & Hardt, 2010-07-03

Langversion THEATER, POLITISCH, erscheint demnächst in einem Sammelband, herausgegeben von Jan Deck (PDF, 188 KB)

Statement von Alex Karschnia&Co. über das Politische in zeitgenössische Theaterformen für Leaving the route 3 (Symposion von laPROF über Ansätze jenseits des klassischen Theaters).

Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken, politisch? Eine Sonntagsfrage, die sich die „Deutsche Gesellschaft“ seit ihrer Sitzung mit Schiller in Mannheim 1784 immer wieder gerne stellt. Vor dem Hintergrund der langen Linie Lessing-Schiller-Brecht-68 mussten die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wirken wie eine erholsame Pause im permanenten Selbstgespräch der bürgerlichen Klasse. Von den talking Gips-heads Deutscher Klassik relativ unbehelligt ist die ‚flämische Welle’ durchs deutsche Theater gerollt, um seine Fundamente zu unterspülen und die Knochen freizulegen: den literarischen Kanon. Damals eroberten bildende Künstler aus Belgien wie Jan Fabre & Jan Lauwers, aber auch US-amerikanische Künstler wie Robert Wilson und die Wooster Group die Bühnen und ein Publikum, das sich nicht länger beschimpfen oder agitieren lassen wollte. In einer Zeit, in der die K-Gruppen auseinanderbrachen und die politischen Aktivisten des ‚roten Jahrzehnts’ aufhörten, in den Gewändern der 20er Jahre die Geschichte der kommunistischen Parteien nachzuspielen, begann ein Theater der Sinne – sowohl der Sinnlichkeit als der multiplen Codes: eine Polyphonie von Stimmen, Gesten, Körpern, Lichtern… Der Sinn, die politische Aussage, die Botschaft, die deutsche Revolutionäre ebenso wie deutsche Dramaturgen einforderten vom Theater, schien sich verflüchtigt zu haben wie ein Feststoff, der plötzlich den Aggregatszustand wechselt: eine Sublimierung im physikalischen Sinne. Stop making sense! Es war das französische Denken dieser Zeit, entwickelt aus einer Kritik des old school Hegel-Marxismus, das es der radikalen Intelligentsia ermöglichte, künstlerische Strategien wie die Verunsicherung der Wahrnehmung, die Destabilisierung der Zuschauerposition, die Verschiebung der Kontexte usw. als radikal zu verkaufen. Sehr schnell avancierte der Formalismus, auch im poststalinistischen Sprachgebrauch politischer Kritik noch ein Totschläger, zum affirmativen Modewort, mit dem man sich sowohl vom Stadt- und Staats- als auch vom engagierten Off-Theater lossagen konnte. Das Theater am Turm löste sich sowohl von seinem Volksbildungsauftrag aus Gründertagen, als auch vom Ruch der Fassbinder-Zeit, in der die Schauspieler mit dem Publikum Kampflieder sangen und über Mitbestimmung diskutierten. Das war der state of performing arts der 80er Jahre mit dem sich die next generation auseinander zu setzen hatte an den Instituten in Gießen oder Frankfurt: Mit Formalismen fing das Experimentieren an. So sind die Stücke von René Pollesch, aber auch von Forced Entertainment undenkbar ohne ‚hidden formalist agenda’, jedoch nur als dessen Überschreitung zu verstehen. Polleschs Theater ist hervorgegangen aus der produktiven Auseinandersetzung sowohl mit dem Erbe des formalistischen Theaters, als auch mit den neuen Inhalten (Feminismus, Kritik der Heteronormativität). Diese Inhalte waren schon seit längerem Themen der neueren bildenden Kunst. Hatten die Künste doch in den 1990er eine Repolitisierung erlebt jenseits alter ideologischer Grabenkämpfe: Beispiel und Höhepunkt war die documenta X 1997, deren telefonbuchdicker Katalog sich liest wie ein Seminarreader über Politik & Ästhetik. Im Jahr 2000 gelang es dann Toni Negri & Michael Hardt mit ihrem Buch Empire den ersten linksradikalen Theoriebestseller zu publizieren. Das Theater, zumal das deutsche, aufs Zu-spät-kommen abonniert, sucht seitdem den Anschluss an die andren Künste und erprobt neue Strategien der Zuschauerversammlung in Form von Kongressen, Tagungen, Workshops. Wichtig in diesen Zeiten populistischer Politisierung ist jedoch die Differenzierung der Strategien. In dieser Situation liefert Negris Post-Operaismus sowohl Waffen der Kritik als auch eine Kritik der Waffen.

Der erste Verdienst von Negri & Hardts großem Wurf ist es, das französische Denken wieder eingespeist in den politischen Diskurs und die Kämpfe der Gegenwart; geschrieben zwischen dem zweiten Irak-Krieg 1991 und dem Kosovo-Krieg 1999 erschien das Buch genau zum richtigen Zeitpunkt, als durch die Massenproteste von Seattle im Dezember 1999 ein neuer Zyklus von Kämpfen begann: die ‚Bewegung der Bewegungen’ betrat die weltpolitische Bühne und Negri & Hardt tauften sie auf den Namen Multitude, Vielheit. Doch liegt dieser euphorischen Befreiungspropaganda die Verarbeitung von Verfolgung, Gefängnis, Flucht und Exil zugrunde: die Erfahrung der „Konterrevolution der 80er Jahre“ (Virno). Für das freie, professionelle Theater ist die Vorgeschichte dieser Lieblingslektüre von Dramaturgen & Kuratoren vielleicht wichtiger als seine Funktion als Stichwortgeber der Globalisierungskritik. So begann Negris Denken mit der Thematisierung der wilden Streiks italienischer Massenarbeiter der 60er und 70er, die sich durch Sabotage & Desertion der Fabrikdisziplin entzogen. Auf die Autonomie der Arbeiter reagierte das Kapital durch die Auflösung der Fabrik in die Gesellschaft: die „fabricca diffusa“ verstreute sich über die ganze Gesellschaft, die sich daraufhin selbst in eine Art Fabrik, die „fabrica sociale“ verwandelte, an die Stelle des fordistischen Massenarbeiters traten die postfordistischen gesellschaftlichen Arbeiterinnen, die Trennung zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen Basis und Überbau wurde perforiert, da nun auch die affektive, emotionale, die intellektuelle und immaterielle Arbeit in den Blick geriet. Durch diese Wandlung der Arbeit wurde nun endgültig der proletarische Laiendarsteller, der in seiner Freizeit Theater spielt, um andre zu agitieren oder sich weiter zu bilden, abgelöst durch postfordistische Performer, die selbst zur Speerspitze des Prekariats gehören und die Avantgarde bilden der neuen Beschäftigungsverhältnisse. Doch das ist nicht alles: Ebenso wie die Fabrik sich als Zentrum der Produktion auflöst, löst sich auch das Theater als zentraler Ort des gesellschaftlichen kulturellen Lebens auf. (Heutzutage rühmen sich Politiker damit, Theater einzusparen, wie die unrühmliche Geschichte der Schließung des TAT 2004 zeigt.) Gleichzeitig hat sich das Theater über die ganze Gesellschaft ausgebreitet, die kulturkritischen Klagen über ‚Entertainisierung’ oder den Showbiz der Politik sind nichts als eine wehleidig-begriffslose Kritik der ‚Gesellschaft des Spektakels’ (Debord). Denn auch der Stadttheaterbetrieb ist trotz seiner Selbstverklärung als Hochkultur selbst der starke Arm einer allgegenwärtigen Kulturindustrie und als Ort hochspezialisierter entfremdender Arbeitsteilung selbst eine Art Fabrik. Für unabhängige Theatermacher dagegen wäre es endlich an der Zeit, über die ‚Autonomie der Theaterarbeit’ zu sprechen. Sind doch die neuen Arbeitsverhältnisse nicht nur Zwang, auf den man reagiert, sondern auch eine Chance, die durch lange Kämpfe errungen wurde zur Transgression alter Trennungen. Im Zeitalter der Scheinselbständigkeit und allgemeinen Professionalisierung, in der jeder ein Experte ist, ist der Zusatz „professionell“ jedoch ebenso fragwürdig geworden wie die alte, umkämpfte Selbstbeschreibung als „frei“: Die „freien Gruppen“ heute müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie nicht im Freien agieren in einem romantischen, prämodernen Außen, sondern Teil des Marktes sind, dem die gesamte Gesellschaft reell subsumiert worden ist. Im Gegensatz zu den engagierten Off-Theatern der 60er und 70er Jahre kann es für Theatermacher also längst nicht mehr darum, sich mit streikenden Arbeitern, unterdrückten Völkern oder andren Verdammten dieser Erde zu solidarisieren, sondern das eigne soziale Sein in der Arbeit zu reflektieren: „weil Du auch ein Arbeiter bist!“ Davon jedoch strikt zu unterscheiden ist das Theater, das sich politischer Inhalte nur bedient, um den Apparat am Laufen zu halten. Denn nach wie vor bleibt die alte Formel wahr, dass es nicht darum geht, politisches Theater zu machen, sondern politisch Theater zu machen. Und dabei ist vor allem über die eigne Arbeitsweise zu reden und über Produktionsbedingungen. Gerade weil Theater von sich aus Kommunikation & Kollaboration voraussetzt und eben nicht nach formalen Regeln funktioniert wie die bürgerliche Gesellschaft oder auch radikale Polit-Gruppen (Redeordnung, Mehrheitsentscheid), mag Theaterpraxis manchmal einen Vorschein bieten auf das, was man gerne nicht-entfremdete Arbeit nennen würde. Stellen wir uns also zur Abwechslung, wie Marx, eine befreite Gesellschaft vor, dann würden wir sicherlich keine Fabriken mehr vorfinden, vielleicht auch keine Familien, und bestimmt keinen Staat mehr, aber eines mit Sicherheit: Theater. Denn Theater ist lebendige Arbeit – die „Arbeit des Dionysos“ (Negri & Hardt, 1997).

STOPPING THE FOURTH WORLD WAR WITHIN THE NEXT 5 MINUTES or the End of critical Media Activism

Alexander Karschnia, 2003-09-29

Kritischer Kommentar von Alexander Karschnia zur Premiere des Films The Fourth World War bei next 5 minutes 4 in Amsterdam (September 2003):

For the fourth time media activists and net artists met in Amsterdam for a “tactical media lab" (11th –15th of September). The highlight was the showing of the new film of the US-american video-collective "Big Noise" called "The Fourth World War.” The celebration of this film with standing ovations at the closure of the four day event I read as a severe symptom of the de-politication of the worldwide resistance to global capitalism: Movement of movement – how low can you go? What has happened to the digital multitude? Actually, a lot has happened since the last Next 5 Minutes (12th –14th of March 1999): the Kosovo-War, Seattle, Prague, the outbreak of the second Intifada, Genoa, 9-11, the war against Afghanistan and Iraq… The world has turned upside down in the mean time. Still, many of the visitors seem to feel that they are on the frontline of a new militancy, that they are "part of something really cool that is about to change the world" (quote from the final discussion). This is charming, but where does this optimism come from while bombs explode every week killing civilians and a new kind of war has been launched that puts the world in a “state of permanent exception” (Agamben)? I am very sorry not to have brought this argument forward during the 5 Minutes, but I was really shocked by the naivity not only of the comrades from the US, but the general attitudes there. I write this down now because I am honestly concerned about what is happening within the ranks of activists that I counted myself a part of until now. Now I am afraid that the same people I expected to put forth a new view on the world are degenerating into a dangerously antimodern movement that fuels a fire that should be extinguished – by "us.” I am afraid that Geert Lovink and Florian Schneider are incorrect with their statement that the choice between Bush and bin Laden was none for us – and so we will proceed on our own path of globalization from beneath. I want to urge everybody very strongly to reconsider if ‚business as usual‘ can go on in the anticapitalist movement – or if things have changed too dramatically since 9-11. Maybe Genoa was the peak of this ‚general mobilization‘ of a worldwide crowd and now this ‚million men march‘ of the global masses should be interrupted – or even demobilized?

In the preparations of Genoa the propaganda from Berlusconi and the other G8-leaders about the anti-globalisation-protestors as potential "terrorists" and the threat of an Islamist attack seemed like pure paranoia from the side of the emperors. Just a month later it DID happen. And this is where things have turned another way. During n5m4 I got the impression that a lot of people treat this incident as a propaganda trick from the evil George W. Bush in his crusade. Or even turning it around into an image for the potential triumph over global capital, the fall of the Empire, the death of the Beast, the crushing of Babylon… A good example for this was the film of another US-video-collective that subverted parts of "Lord of the Ring", turning the gathering of the heroes into a gathering of the contemporary anti-capitalist forces. A really funny piece, I loved it, I laughed a lot, but at the end when the evil twin towers are mentioned in the actual story there is a cut – and the approaching terror-planes are shown. Got the picture? It is dangerous to play with the images of terror, it is nothing less, than in retrospect giving truth to the statements of Berlusconi & Co. prior to Genoa turning the movement of movements into an "anti-glob-mob.” Some people associated with the movement like Naomi Klein sensed this and urged a change in symbols. I think that at least some people at n5m4 had some trouble with “The 4th World War” -one of the organizers interviewed "Big Noise" and asked about Naomi Klein’s intervention. Unfortunately this suggestion was not taken up. The "Fourth World War" was presented: "Welcome to the war!" (Or: "Are your ready for the war.") The question is if this is just a rhetorical rather than radical gesture, ‚radical chic’ – or if this is a serious symptom. I left the room after the first ten minutes, because I couldn’t stand the way everything was mixed together and labelled as this “new war”: “Argentine, Mexico, South Corea, Palestine…” The original idea of Subcommandante Marcos to call the Cold War the "Third World War" and corporate globalisation the fourth had some charm to it – before 9-11. To apply it to the "war on terror" is dangerous. More than that, I would label it a reversed Bush-ism, the re-affirmation of the “state of exception”. It is the same political mistake as repeating the declaration of war against the Empire, that the Tutte Bianchi made before Genoa. After 9-11 it is very questionable if the movement should use the word “war” with positive connotations. Also it would be necessary to reconsider the reality of terror. I couldn’t believe how one could compare the armed, but defensive militancy of the Zappatista Army with the second Intifada: it is not the old Intifada of kids throwing stones against soldiers, this time it is kids throwing stones, but behind them are Palestinian snipers shooting at Israeli soldiers – so you have the picture of the kids for the TV cameras and when a kid gets in the fire line this also produces an image (we will get to that later). This time it is an Intifada of terror, suicide-attacks, “martyr”-murderers. It is not only unarmed people against a military machine, it is also a terror apparatus against a civil society. But in the “4th world war”, everything is getting stirred together: the mourning for disappeared family members during the Argentine dictatorship – a Hamas burial that is actually a hate rally. However deep the differences about the Israeli-Palestine-conflict are: Does anybody seriously believe that the Israeli Army is doing its military operations to bring free trade to the Palestinian territories? Can’t we at least agree that this is not part of the frontline of globalisation, but another kind of conflict?

Probably we cannot agree on anything related to that conflict, because the new militants really depend on the picture of the evil Israeli for a black-and-white-picture of the world. Even more, it is needed to pump oneself up with "aggression against the aggressors". The question really is, if it is the moral outrage over injustice or if within that outrage something else kicks in: the energy of a very old resentment. This seems to be a problem I have with probably the rest of the world’s left. As paradoxical as it is, it almost seems as if only in the German and Austrian Left, the countries where Nazism developed, there has been a debate about antisemitism on the side of the left (in leading left publications like KONKRET or Jungle World). Since the Gulf war in 1991 there was a strong thematization of antizionism being a cover-up for antisemitism and in the last years a left radical pro-Israel-attitude developed. On the eve of the war against the Baath-regime in Iraq the left was deeply divided. Ever since the so called Al-Aksa-Intifada started in September 2000 many political initiatives have broken up and many friendships have been shattered. I came to Amsterdam hoping to get away from this highly polarized atmosphere. I was – inspired by the Munich Volksbad Declaration of the make-world-congress – hoping to meet some people with a horizon beyond the question of pro and con, but searching for a New World that transcends territorial disputes (even if it is the "Holy Land") and that looks beyond "national liberation" as an emancipatory strategy. So I was really disappointed: by Next 5 Minutes as well as the makeworldpaper # 3, that was distributed there by Florian and Geert. I will start with this: "A complicated affair" by Herman Asselberghs and Pieter van Bogaert is a sad example for me of a misguided solidarity, one-sided and wrong. I liked the approach of talking about the everyday-life, about the conditions of artists in the Palestinian territories and their strategies for (artistic) survival, but I lost my sympathy when they mentioned a "suicide attack on an Israeli target" – knowing that these targets are all (in the language of the military) "soft targets": civilians. They seem to put the word "terror" in quotation marks when they write: "CNN has proclaimed a ‚day of terror‘ for the Israelis due to a bomb attack on a hotel in Mombasa, a failed attack on a flight from Kenya to Tel Aviv and a suicide squad in Jericho." I would argue: this IS a day of terror for the Israelis, no matter what CNN says. Mentioning CNN in this respect could all too easily suggest that it is only CNN – the US-American media (and you know how a lot of people think who controls the U.S. Media…) – that phrases it this way, as this was an act of propaganda. It is propaganda NOT to call this terror: this attack on Israeli people outside of Israel – as far away as Africa. This incident showed the deeply antisemitic character of the terrorists who want to make clear that no matter where Israelis are they could be attacked. I perceived this incident as another stage of escalating what anti-antizionist leftist came to call "the new anti-Jewish war" (since the massacer during Passach on March 27, 2002 the antisemitic character has been very obvious).

It would be very necessary to transfer the debate of antizionism-as-antisemitism into the forum of the world’s left, but at this point I want to adress one specific aspect: media politics around the Israeli-Palestinian conflict. Because here the old myths of media activism fall to pieces. Asselbergh and Bogaert mention the TV picture of the shooting of the young boy Muhammed al-Durra "around Christmas 2000.” Although this connection of the Palestinian riot and the Christian advent had often been made (one can speculate why) this specific incident actually took place on the second day of the outbreak of the second Intifada, on Septembre 30. It seems that the authors are just as uninformed as most of the other blindly one-sided people. Maybe they did not have a chance to see Esther Schapiras documentary "The Red Quadriga: Three bulletts and a dead child" about this incident (it just won a media-price in Moscow), but it has been shown in other countries too. But they could recently have read James Fallows article in "The Atlantic Monthly" (also: Zurich "Weltwoche" 29/30, also see the last issue of KONKRET, as well as No. 12, 2000). In their research the incident at the crossroad was closley investigated with ballistic measurements etc. and it comes to the conclusion that it was not possible for the Israeli soldiers in the fortress tower who were attacked by a mob to have shot the kid. There are a lot more strange circumstances: the father and the boy arrived at 15h, the burial shown on TV was on 13h. Also the boy that was buried had a deep stab wound in his stomach. The documentary does not answer how this boy could have been killed, others like Nahum Shahaf who was involved in a lot of the research done in Israel ask questions like: Why is there not more film material than only these two minutes of the killing (while the camera team was there far longer)? Why does it look as if the boy moves in the lab, although he is said to be dead. Why is there no blood on the fathers clothes? Why does the camera man shout: ‚The boy is dead‘ before he is hit? For Shahaf this scene was enacted for TV, the journalists leave this speculation open. But the question remains: was this part of a campaign? If it was, it was very successfull: this picture was not only deeply engraved in the collective memory, it became a post stamp in a couple of Arab countries, billboards were placed, a main road in Iraq and a park in Marocco were named after the boy and in Palestinian schools the kids learn to say: “We are all Mohammed.” His father said that he would also sacrifice his other kids… But let’s go on: Asselberghs and van Bogaerts text really is a good example for the media politics involved in this conflict, because they themselves mention that many Palestinians work as camera men for Western news stations (the man who filmed the al-Durra-scene was Palestinian and worked for France 2 for example.) One could argue that these camera men are "embedded journalists" of the Intifada. And one could argue, that the news management from the Palestinian authorities is a powerful weapon: pictures from the hot spot of world conflicts are an expensive commodity in the media economy, as we all know. But what most of us don’t want to know is how effective this news management from the Palestinian authorities can be. Another example: when at the end of the year 2000 two Israelis were lynched by a Palestinian mob, because they took a wrong turn and drove into a Palestinian village, the picture of one of the murderers, who holds his bloody hands out of the window to show the mob that they ripped the two men in pieces, was circulated around the world. It was shot by a small Italian TV team. A major Italian media corporation that didn’t capture these pictures officially sent an apology to the PA because they were threatened not to be allowed back in the territories – a serious threat for a big media corporation in one of the hot spots of the world! That should make every media activist think twice about their black-and-white-view-of-the-world. Is it really the independent media activists that go into the territories to show the truth versus the censorship of the militaristic Israelis? Or are the pictures that this "alternative CNN" brings to us the SAME pictures that we see on TV? In this respect the indy-coverage really is “parasitic” on mainstream media – they merge. Don’t the critical media-acitivsts realize that they are reproducing the media? Or is this a contradiction nowadays: to be critical and activist?

One last thing to Next 5 Minutes: That you only got a Palestinian filmmaker instead of an Israeli-Palestinian cooperation is probably not your fault, but simply impossible right now. But why as media critics do you not have a critical view on the way reports come in from the Palestinian territories? Why do you lose your criticism when it comes to this particular struggle? After 1999, when we have seen the Kosovo-Albanian seperatists succeed in internationalizing their conflict and using the NATO air force for their own purposes we should be very critical and look closely at what happens. It is not only the leading industrial countries that organize the military action to expand the reach of the EMPIRE, there also is effective lobbying and media work from small ethnic groups that want to redraw the world’s map! There is a collaboration of ethnic seperatism with the expansion of EMPIRE. Israel is in danger to become a second Jugoslavia, a vicitm of the New World Order. This danger comes from the politics of the EU (we’ll come back to that). Second: I was specifically disappointed that there was nothing at n5m4 on Iran. we have a massive student uprising there, the population supports it now, it is a pre-revolutionary situation there, but you seem just as desinterested in this as the rest of the European mainstream media. And there were a lot of things in the Net: the Student Union SMCCDI (movement for the coordination for democracy) has an Internet portal, there are webcams like www.Teheran24.com, there used to be female sites like www.Iraniangirl.com or the website for censored music www.teheranavenue.com (see: www.jungle-world.com, 35/03), – I mean, there is the chance for a peaceful regime-change from within, without the use of war from the outside – but the Europeans don’t care and their governements keep supporting the Mullahs and all the other Arabic despotic regimes. Ask Persian people in the diaspora what they think about the Europeans these days… And third: there was a lot of talk about EMPIRE, but most people seem not to have read Negri/ Hardt, because it is definitely NOT the old US-imperialism. What was completley missing was the other side of the picture: the EU, the free trade partners of Saudi-Arabia, Syria and Iran and the main financer of the Palestinian Authority – and maybe the terror (see the work of the dissident German green Ilka Schröder against the uncritical EU-support of the Palestinians: www.ilka.org). And why was in the tech-debate on n5m4 not one critical debate about the Galileo-project. A couple of months ago the EU told the public, it was just civilian – now they admit, it is for military purposes. It is a competition to the US-Army, because the Europeans got shut off during the Kosovo-war. What do you need this for – except to be capable of making your own war – or to even wage a war against the US. This makes one very skeptical of this new axis of peace (Germany-France-Russia-China). To speed up the military union of EUrope is not a path of peace – or do you agree with most of the Europeans, that this is a good thing – just because it is against the US? This is not the EMPIRE, this is a new imperialist conflict and who wants to take sides in that? Isn’t it the duty of leftists of all countries to first fight their own goverments (like Liebknechts old slogan: “The main enemy is within the own country!”) Even worse I think is that the Antiglob-movement celebrating the global masses on March 20th sides with the mob in Jakarta and Egypt, burning US and Israeli flags – the “small” and the “big Satan”. Solidarity with the people in the Islamist countries should not be uncritical, supporting hate rallies, antisemitic resentments. Take as a counter-example the Iranian students movement’s paper "Leave Israel, what about us" in which they said they didn’t want to hear the governments antizionist propaganda as explanation of all ills, being the ill itself: the theocracy. So fourth: I really missed a debate on terror. Why didn’t we address the question of networks of terror like “al Kaida”. This is a truly dystopic sci-fi-scenario: the EMPIRE striking back against an autonomous network, a PC in a cave in Afghanistan. This brings me back to the beginning: this war has to be ended by us – and by “us” I mean those people who have thematized networking, the media, the new world of communication etc. Of course, it is the souvereign who defines the state of exception (Carl Schmitt). But it is up to us to intervene in this discourse! Neither by re-affirmation of the “war”, nor by ignoring the reality of terror or posing the question as Bush vs. bin Laden. It is about a re-definition of peace. The EMPIRE used to be defined as EMPIRE that brings about permanent peace (like the Pax Romana). Since 9-11 peace seems like a promise, like an eschatological goal, like the beginning of messianic times. Peace surely has nothing to do with the EU taking up arms against the US – it is about the multitude taking over the EMPIRE. But the multitude is not the new masses on the march against global capital and it’s definitely not the mob raging against the US and Israel! The multitude is a promise – like peace, the coming community (Agamben): MAKE WORLD. PEACE! (27.09.2003)
 

www.makeworlds.org

BEATZ!STREETZ!REPUBLIC!

Alexander Karschnia, 2001-08-30

BEATZ! STREETZ! REPUBLIC!  (PDF, 45,1 KB)

zur Frankfurter NachtTanzDemo street re.public am 30.08.2001. Kampfansage an den Versuch, die NachtTanzDemo zu privatisieren. Erster Schritt zu einer Re-Politisierung der Party-Politix-Szene wenige Tage vor der Zäsur von 9-11. Außer der NachTanzDemo fanden mehrere Aktionen im öffentlichen Raum statt ("Kochen gegen Koch"). Im Bündnis mit BAF (Beatz against Fascism) wurde am 1.9. eine antifaschistisches Festival zum Anti-Kriegs-Tag organisiert als Zeichen gegen die Neo-Nazi-Aufmärsche zum Tag der Arbeit, dem 1.5.
 

 

FRANKFURTER BEUTE

Alexander Karschnia, 2002-12-07

published as: Stadttheater als Beute. René Pollesch Resistenz-POP. Spoken Words. In: H. Kurzenberger, A. Matzke (Hg.): TheorieTheaterPraxis. Theater der Zeit, Recherchen 17, Berlin 2003.
Ursprünglich als Vortrag auf dem 6. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Hildesheim gehalten am 08.11.2002. Zuerst im Internet publiziert unter:

> part 1: Diskursanalyse in der 1. Person (published at www.liga6000.de 2002-12-07)

> part 2: Keine Aha-, sondern AAAAH-Erkenntnisse (published at www.liga6000.de 2002-12-15)
 

liga6000.de

GLOBALISIERUNGSKRITIK, WIE WEITER? Antwort#64

Alexander Karschnia, Berliner Gazette, 2008-09-15

Der Berliner Brecht war gleichzeitig in New York und Moskau zu Hause, die Globalisierung, von der er traeumte nannte sich damals noch >Weltrevolution<: >Willkommen, Arbeiter!< las er aus dem Westen kommend auf einem Schild >Fahrend Ueber Die Grenze Der Union<, auf der Rueckreise las er die Rueckseite: >Die Revolution/ Bricht alle Grenzen<. Dass er, der >weise< schwieg zu den Moskauer Prozessen in den 30er Jahren, den trotzkistischen Traum von der permanenten Revolution nicht aufgegeben hatte, wissen wir heute nur durch Heiner Mueller: Das FATZER-Fragment folgte der Logik der kleinsten Zelle, die irgendwo den Aufstand probt bis zum notwendigen Untergang, dabei jedoch Zeichen setzend: >Was zaehlt ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts.<

Das dachte sich wohl auch die erste Generation der RAF, doch markiert deren Untergang im Stammheim-Bunker das Ende der Hoffnung auf die Weltrevolution: >end of dream<. Der Trotzkist unsrer Tage arbeitet fuer die Coca Cola Company in Indien – auch das wissen wir von Mueller: >Erst wenn den Indern die Cola aus den Ohren quillt, hat die Revolution wieder eine Chance.< Das gilt heute mehr denn je, insofern sagen die haeufig reproduzierten Collagen von Coca Cola und Communist Party die Wahrheit: Erst wenn das Kapital global ist, wird am Himmel der rote Stern aufgehen. Also war der Stalinismus der letzte Versuch, diesen Prozess aufzuhalten – das mag der Grund sein fuer die denkwuerdige Wiederkehr des Josef W.

Unbewusst wird er als Retter vor der Globalisierung beschworen, als Gross-Inquisator, waehrend Trotzki im Dschungel untertaucht und jenen Aufstand anfuehrt, der aus dieser >Globalisierung< eine weltweite Massenbewegung macht: Das Z des Zappata steht am Ende jenes Alphabets, welches mal mit A wie Anarcho begonnen hat. Aber vielleicht ist es auch umgekehrt und der pfeiferauchende Subcommandante verbirgt einen georgischen Schnaeuzer unter der Haube und lacht sich, wieder mal, ins Faeustchen… Also begruesst man jeden neuen Wolkenkratzer auf dieser Welt hoffend, es koennte der neue Turm von Babel sein. Dass 9/11 als dessen Zerstoerung gesehen wird zeigt nur, wie tief der Instinkt sitzt, sich in die Hoehlen zu verkriechen wie bin Laden in Afghanistan.

Das ist traurig und falsch. Geht es doch bei der Globalisierung darum, Welt zu werden – ein symptomatischer Lesefehler liest >das Weltende< von Heidegger apokalyptisch statt aktivistisch als das Werdende. Jede kuenstlerische Produktion sollte weltend wirken wollen und davon ausgehen, dass man woanders viel besser missverstanden wird als daheim. Deswegen bringen wir Stalin zurueck auf die Buehne, steckt doch hinter dem allseitigen Gerede vom >Neuen Kalten Krieg< die Spiesser-Sehnsucht, sich in einer Familienhaushaelfte einzurichten, DVDs im Atombunkerkeller zu gucken, waehrend Hitlers Armeen die Grenze der Union ueberrollen. Doch nicht nur Hitler hatte einen Pakt mit Stalin, alle haben diesen Pakt geschlossen gegen die Globalisierung des roten Oktobers – und dieser Pakt hielt so lange, bis die Massen die Daemme brachen.

Heute, 69 Jahre spaeter, befinden wir uns wieder in der Lage Lenins vor der Revolution, jener Verzweiflung ueber den Weltzustand, die den grossen Krieg kommen sah. Dabei ist 1991 in Moskau jener unwahrscheinliche Fall eingetreten, den Nietzsche einmal als die einzige Chance fuer Frieden bezeichnet hat: dass eine bis an die Zaehne bewaffnete Grossmacht freiwillig die Waffen streckt. Heute, nach dem 08.08.08, ist es Zeit zu fragen, wer diese Chance verspielt hat, warum. Von der Antwort koennte mehr abhaengen, als uns lieb ist.

Alexander Karschnia.

www.berlinergazette.de

ÜBER HEINER MÜLLER'S POSTDRAMATISCHEN KLASSIKER "Die Hamletmaschine" (1977)

Alexander Karschnia, Theater der Zeit, 2008-10-01

„Die Aktualität der Kunst ist morgen“ behauptet Heiner Müller – es fragt sich also, ob Die Hamletmaschine 1977 nicht viel unzeitgemäßer gewirkt hat als heute? Klangen Hamlets Reden von „Europa“ nicht entweder antiquiert oder vollkommen utopisch in einer Welt, die in West- und Osteuropa geteilt war? Der Sturz der Stalin-Statuen lag schon 21 Jahre zurück, der Lenins dagegen 12 Jahre in der Zukunft. Heute wird in Russland öffentlich über die Neu-Errichtung von Stalin-Statuen diskutiert, während russische Truppe gerade dessen georgischen Heimatort Gori heimgesucht haben. Als 1956 sowjetische Truppen in Budapest gegen eine Menschenmenge eingesetzt wurden, die sein monumentales Abbild geschleift hatte, mussten sie dort zur selben Zeit gegen eine Menge vorgehen, die es vorm Abriss schützen wollte. History repeating? Letztes Jahr hat allein die Ankündigung, das Denkmal für die Rote Armee in Tallinn zu versetzen zum Ausnahmezustand geführt, als Angehörige der russischen Minderheit dagegen aufbegehrten. In Budapest stehen mittlerweile alle Statuen aus sowjetischen Tagen friedlich in einem Themenpark versammelt. Dennoch wurde gerade jene Stadt zum Schauplatz einer beispiellosen Farce, als die rechte Opposition die 50 Jahrfeiern des Volksaufstandes zum Anlass eines gewalttätigen re-enactments nahm. Die Aufstände, die als Spaziergänge im gesamten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion begonnen hatten, scheinen sich seitdem Milosevic am 5. Oktober 2000 in Belgrad gestürzt wurde, in ehemaligen Sowjetrepubliken wie Georgien zu wiederholen, wo im November 2003 die „Rosenrevolution“ Saakaschwili an die Macht brachte. Auf solche Geschichten haben Müllers einsame Texte gewartet, doch bleibt das dem betriebsblinden Blick zumeist verborgen. Statt Stücke zu „aktualisieren“ und gegenwärtiges Geschehen die Texte kommentieren zu lassen, lohnt es, die Gegenwart zu „historisieren“, um das Geschehen geschichtlich zu begreifen als zukünftig vergangenes. Die „Arbeit an der Differenz“, die Müller forderte im Umgang mit Shakespeare, spielt sich nicht im Hier und Heute ab, sondern zwischen gestern und morgen. „Wenn es jetzt ist, wird es nicht kommen; wenn es nicht kommen wird, wird es jetzt sein“, so Hamlet zu Horatio, nachdem er Laertes’ Herausforderung zum Duell angenommen hat: „wenns jetzt nicht ist, wird es doch sein: bereit sein ist alles.“ Das ist die Haltung des Spielers, der auf dem Sprung ist, um die vorbeihuschende Fortuna am Schopf zu fassen. Das sollte auch die Haltung des Schauspielers sein. Am Rand einer Manuskriptseite notierte Müller: „end of literature (‚begin of game’)“ Darunter mit Filzstift: „D. Drama ist zu Ende ‚Das Spiel beginnt’.“ Dazu muss jedoch der Text selbst aufs Spiel gesetzt werden wie in SHOWTIME: trial & terror , in der ein Glücksrad, dessen Spielfelder den fünf Akten entsprechen, die Dramaturgie des Abends bestimmt. Dem Zufall gehört die Zukunft, die dunkel ist wie eine black box – darin besteht die untergründige Verbindung zwischen Theaterraum und Zeitverlauf: „Wenn es jetzt ist…“ Dass das Spiel tödlich ernst sein kann, zeigt nicht nur der weitere Verlauf von Hamlets Drama, sondern auch die Geschichte: Als „großes Spiel“ hatte Molotow das Ringen der Mächte vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bezeichnet, seine Finte war der Pakt mit Ribbentrop, woraufhin sich die SU die baltischen Staaten einverleibte. Doch „Rien ne va plus“ gilt nicht in der Geschichte, das ist die gute Nachricht gegen die „Lüge vom POSTHISTOIRE“ (Heiner Müller). Heute gehören die baltischen Staaten statt zur SU zur EU, die auferstanden aus den „Ruinen von Europa“ sich immer weiter gen Osten ausdehnt. Doch Hamlets Revolte richtet sich genau gegen solche Superstaaten, wie ein andrer H.M., Henry Miller, in seinen Hamlet Letters schildert. Das „Ich spiele nicht mehr mit“ des Hamletdarstellers im 4. Akt ist die Grundformel der ‚Großen Weigerung’ (Herbert Marcuse), die sich in den 60ern nicht nur gegen den westlichen Konsumkapitalismus gerichtet hat, sondern auch gegen den Neoimperialismus beider Blöcke. Der Schritt „Vom Protest zum Widerstand“, den Ulrike Meinhof erst beschrieben, dann vollzogen hat, führt in den fünften Akt: „Hier spricht Elektra, unter der Sonne der Folter“. Philologisches Bemühen hat diese Worte in Sartres berüchtigtem Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialem Manifest „Die Verdammten dieser Erde“ gefunden. Sartre sprach von der Wiederkehr der Folter in Algerien, Kongo und Vietnam als „Schande unsrer Zeit“. Doch in dieser Zeit – das ist das Unheimliche an der Relektüre der Hamletmaschine – leben wir immer noch: „wenns jetzt nicht ist, wird es doch sein.“

 

TEMPONAUTEN-THEATER

Alexander Karschnia, Berliner Gazette, 2007-11-11

Es wird Zeit, dass es Zeit wird

>Wenn alles unter Kontrolle ist, fahren Sie noch nicht schnell genug.< Das ist der Sound des Neoliberalismus. Klingt mitunter ganz witzig, wie Lenin auf Speed. Dennoch – seit Jahren beherrscht mich ein merkwuerdiges Gefuehl der Zeitlosigkeit. Als ob der Globalisierungs-Countdown nach 1989 ins Leere gelaufen sei. Vielleicht ist auch eine Schallmauer durchbrochen worden und wir befinden uns im freien Fall nach oben. Eigentlich herrscht nur in den Metropolen rasender Stillstand, waehrend die Walze der Weltwirtschaft durch die Peripherie mahlt.

Man wird das Gefuehl nicht los, man muesse noch mal zurueck ins Jahr 2000 – haben wir nicht irgendetwas Wichtiges vergessen? Vielleicht ist es auch eine globale Depression, die eingesetzt hat, nachdem man sich ein ganzes Jahrhundert auf das neue Jahrtausend gefreut hatte. Wenigestens die Atomwaffen haette man ja abschaffen koennen – hatten uns das nicht Gorbatschow und Reagan einmal versprochen? So jedenfalls werden wir die Gespenster des 20. Jahrhunderts nicht los… Ausserdem: Wie killt man eine digitale Uhr? Das sind Fragen, die mich zur Zeit umtreiben – denn: Zeit ist Frist!

Collaborations mit US-Amis verstaerken das Abendlandgefuehl, da kommt man sich schnell ganz alt-europaeisch vor: Was wir schon alles hinter uns haben, wenn die gerade erst aufstehen… Instant Jet-Lag! Ich liebe Telefonlaeden, in denen verschiedene Weltzeituhren haengen, mein Bildschirmschoner ist eine Zeitzonenkarte. Die Zeitzone hat eine grosse Zukunft vor sich, Sonderzeitzonen werden noch eine bedeutende Rolle spielen – als Ausnahmezustaende und ausgesonderte Wirtschaftsbereiche. Wenn es ein Versprechen der historischen Avantgarde gibt, das nicht aufgebraucht ist zu Beginn des neuen Milleniums, dann ist es die Entdeckung dieses neuen Kontinents: der Zeit. >Wehe, schwarze Fahne der Zeit!< [Velimir Chlebnikov, erster Praesident des Erdballs, 1920]

Fuer unsere Arbeit ist die Chat-Kommunikation aeusserst wichtig, Protokolle von Geistergespraechen mit Zeitleisten. Diese Form des schreibenden Sprechens hat ja eine natuerliche Naehe zum Theater. So ist auch der Titel fuer unser erstes &Co.LAB mit dem bildenden Kuenstler Noah Fischer entstanden: >Revolutionary Timing<. Mir ist erst durch die Lektuere von Lenins April-Thesen die Bedeutung des Timings klar geworden. Dabei muss hinzugefuegt werden, dass es in unsrer Arbeit den Streit zweier Linien gibt: einer beschleunigenden, eher Leninschen Typs und einer verlangsamenden, eher Maoschen Typs: >Lieber eine sozialistische Verspaetung als kapitalistische Puenktlichkeit!< Das ist das Ethos unsrer Ko-Autorin und Mitperformerin Bini Adamczak. In ihren Augen ist die Arbeit im Theater purer Fruehkapitalismus. Und das stimmt ja auch. Zeit ist Frist – bis zur Premiere. Kein Stress, kein Spass…

>Time Republic< ist der zweite Teil unsrer Kommunismus-Trilogie, die wir mit dem Stueck >little red [play]: herstory< begonnen haben: Die Geschichte einer jungen Pionierin, die aus dem Westen stammt und im Sommer immer ins Kinderferienlager in die DDR gefahren ist wie Alice ins Wonderland statt in die Toskana wie ihre Schulfreundinnen. Nun sehnt sie sich ins Jahr 2000 zurueck, zu dem sie sich mit ihren Ost-Freunden am Alex an der Weltzeituhr verabredet hatte. Dieses Mal kruemmt sich die Raumzeit, little red trifft little blue aus der SU, Lenin lebt, John Lennon stirbt…

Uns interessiert die Figur der Temponauten, der Zeitfahrerinnen. Bei uns geht es immer um einen historischen Re-Mix, diesmal mixen wir Sputnik-Schock, Kuba-Krise, Mondlandung, die Ermordung John Lennons und die Aufloesung der Sowjetunion mit den alten futuristischen Fantasien der 10er und 20er Jahre: Es geht um den Aufbruch der Menschheit in den Weltraum, den Ausbruch aus der raeumlichen Beschraenkung. Ausschlaggebend war die Bemerkung Derridas nach seiner Rueckkehr aus Moskau 1990, das Utopische an der UdSSR sei ihr Name gewesen, da er keine Referenz auf ein reales Territorium in sich trage. Das korrespondiert mit den Forderungen Chlebnikows, der den ersten Zeitstaat ausgerufen hatte: >Raumstaaten erzittert!< Vielleicht hat die Zeitrepublik ja schon laengst begonnen…

Die Reihe >Telling Time< in den Sophiensaelen verstehen wir als Chance, fuer 74 Minuten eine Zeitrepublik auf der Buehne zu errichten, eine Sonderzeitzone. Erzaehlen heisst aufschieben, das Ende – den Tod – aufzuschieben. Diese Funktion hat schon seit geraumer Zeit eine besondere Klasse uebernommen, die kreative Klasse oder wie auch immer man sie nennen will. Wir traeumen von einem Theater, in dem das Publikum zum Ko-Narrator wird, in dem die Geschichten, weil sie offen bleiben, weitergehen. Die Zeit ist aus den Fugen, doch wir sind nicht gekommen, sie wieder einzurenken. Erst wenn man Arbeit in Herzschlaegen misst – und nicht in abstrakter Zeit – werden wir wissen, was das ist: Kommunismus. Das oder ein kollektiver Infarkt als Fortschrittstat. Zeit, zu enden…

Alexander Karschnia

berlinergazette.de

THIS WAY…

Irene Moundraki, Magazine “Highlights”, 2005-07-07

Alexander Karschnia – Nicola Nord&Co. Interview by Irene Moundraki from the National Theatre of Athens for the Magazine “Highlights” in 2005

You two have been working together as an ensemble. How does this function?

Alex: We are co-founders of an artists’ network called andcompany&Co. We have both studied theatre-, film- and media-studies at the Goethe-University in Frankfurt/Main. I discovered practice out of theoretical curiosity; Nicola discovered theory after having been involved in practice for a long time.

Nicola:
I made the conscious decision against acting schools and joined the university which also became my artistic education through different mentors, but mainly the teaching of Prof. Hans-Thies Lehmann who opened a whole new world for us beyond traditional theatre, who introduced us to an ‘other Brecht’, an un-orthodox reading and understanding of his theatre and how it is still unconsciously influencing new theatre makers, even performance art today.

  • How is your experience in DasArts, this very pioneer institute? How do you work there?

Nicola: DasArts is a very unique place in the landscape of theatre and dance education. It is rather difficult to describe DasArts, and that already tells a lot about it, because it is always changing. Every artist I met who has been to DasArts, experienced a different DasArts, because it is truly a mobile art school, movable in its own methods and themes. As a post-graduate school for makers (theatre, dance, visual art and others) they constantly try to re-invent themselves in order to keep a dynamic educational model. They redefine their program twice a year, having so called ‘group-blocks’ with different mentors and themes from different artistic fields, during which 12-14 students meet to engage in a process of discovery, exchange and challenge. I participated in three of those blocks; in the second I wrote part of the script of our new piece: europe an alien and was able to invite andcompany&Co. to work on it. I just finished my third block with an Individual Trajectory, an intense study and research period, which ended in the solo-work: little red (room). I will finish DasArts in 2006 with my final project. DasArts is a place where connections are made – between theatre and society and theory and practice, and is therefore an ideal place for me as theatre-maker dealing with those issues, as well as for our group andcompany&Co. that also benefits from the great network, which DasArts has built over the years. The goal of DasArts is to constantly expand the vision what theatre might be, they keep on pushing boundaries without being afraid of taking risks, and are therefore a great and inspiring think- and do-tank in my work.

  • What do you think about theatrical education?

Nicola: There is nothing like DasArts in Germany, if you want to make theatre, there are still not much more choices than to apply at a director’s school or at an actor’s school. Most of those schools are state-schools, connected to state-theatres, and even if the education might be technically excellent, the carrier of those who make it is preprogrammed: You end up in an ensemble of a state-theatre, if you are lucky you get to play bigger parts and this allows you at least some possibilities. We chose a different way, because we want to choose who we work with. I think that workshops, scenic projects or summer-academies are a great way to get ahead and to try out new forms. The workshop I gave last year for theatre students in Frankfurt, where we worked with the original sound material of the Frankfurter Auschwitz-Trial, had a very strong impact on my work in general. I believe that those intense periods of dealing with each other can have a deeper effect on someone, than years of common art-education. Brecht said that talent meant interest – and getting people interested, that is what I like to do when I give a workshop.

  • What are the purposes of your company?

Nicola: We believe in collaboration as the very essence of theatre and also that theatre will cease to exist if it’s not searching for new collaborators from other fields (fine arts, photography, videomaking, etc.) But instead of a Wagnerian “Gesamtkunstwerk” we’re looking for a loose artistic association based on the idea of networking and the art of conspiracy. We work preferably with artists from different artistic fields, the other two co-founders of our company, Sascha Sulimma and I. Helen Jilavu, are a musician and a photographer. In our research period all of us work in our own fields and inspire the process, but at the end we do theatre together, putting everybody on
stage. The most important is to make all participants visible, even the technicians. For every production we invite new artists, for europe an alien there will be the graphic designer Louise Kolff and the Greek dramaturge Alexandros Efklidis, for our last production: for urbanites – nach den großen Städten, we invited a German filmmaker, an inventor of game shows and a theoretician, writing a dissertation about computer games. But the “&Co.” does not only include other artists, but also the members of the audience whose co-presence is the specific quality of theatre, who cofabulate (Brecht) and also co-produce a theatrical performance (Heiner Müller).

Alex:
We want to undermine the distinction between actor and spectator and encourage the “spectator” to come out of the closet. For us the “stage” can be anywhere, a street, a club, an empty house or ruins of industrial culture, it doesn’t matter, what matters is that there is a place in society that is marked by quotation marks: “theatre”. We shouldn’t forget that in ancient Greece and in Elizabethan England plays were performed during daytime: the Erynnians as well as Hamlet’s ghost appeared in bright sun-light! (End of quote)

Nicola:
That’s why we prefer theater without a roof.

  • You have chosen to work a lot on political issues (p.e. refugees, exiles). Why do you choose them?

Alex: The crisis of liberal democracies because of mass-media has not become less since the early 1920’s, the triumph of the radio, it has become worse. The ‘theatricality of politics’ is a problem that is not to be solved by a new form of ‘authenticity’ or ‘purity’ of the political realm, but by staging a critique on the stage of theater, of using ‘theatricality against theatricality’: spy vs. spy.

Nicola:
But that doesn’t mean, that our theatre is political, because of the issues we choose, rather we want to make theatre in a political way. Collaboration is rule nr. 1 for this project, nr. 2 is the way we deal with issues, for example the question of exile and refuge: We don’t use them as topics that are put on stage, but rather as challenges that question the whole idea of “stage”, “theatre” etc. Like Brecht said in 1936: “The modern audience member comes into the theatre as a customer but also like a refugee.” Rather than actors talking about refugees we want to work with this situation of theatre as refuge and actors as exiles, exiled on stage.

  • Do you believe that theatre can have a serious part on facing and dealing with these problems?

Alex: Only very indirect, today theatres can probably only help facing problems by refusing to play their part, their role of ‘enlightened entertainment’, of cultural education and identity building. The idea of we-are-we has to be challenged, to fight with the invisible fourth wall that separates the stage from the audience is also a fight against the territorial border that keeps refugees outside – and sometimes citizens inside. And it is a never-ending fight, which is the first lesson, the most important one. We think that the question of borders and transgressions is a, maybe the central topic of today and we should start to face the fact that we are dealing with very new borders that are very flexible and very rigid at the same time.

  • What do you believe that the theatre of today is? Do you think that you are working on a new kind of theatre?

Alex: The crisis of the theatre today is the crisis of the nation-state. We need a theatre for the global village, a theatre that cuts off its roots and starts to wander around again: Actors used to be migrants, they were traveling people, and it was a nomadic artform. The whole idea of a standing stage, of theatre inside a house was the dream of nation-builders, of artists-as-statesmen, cultural leaders (in Germany Lessing, Goethe & Schiller). We don’t believe in ‘world-theater’ in the sense of “the whole world is a stage” (Jacques in As You Like It), a ‘global theater’ as a some sort of Über-nationaltheatre, but a minor theater, a small stage, a theater as fluid as financial flows that materializes itself from time to time somewhere to mark a space with quotationmarks. QUOTE–UNQUOTE.

  • Do you think that theatre has lost its autonomy and has to contribute with all other arts and with new tendencies?

Nicola: Sure. Theatres often remind us of deserted temples or empty churches. Instead of asking the believers to return we should change the religion and use the houses in the meantime for something else, for festivities, for gatherings, etc. The actors should go on strike together – in order to do something together, to finally find out what they could do if they collaborated. I believe that theatre-people already have a dream of how they would like to work, and they only have to wake up to make the dream come true. Some other artists could help to wake them up, they are already knocking on the doors of the theatres. Because there is a promise hidden in theatre-making: the
promise to do something together.

Alex:
Actors are workers, the theatres today are sweat-shops, and they operate as agent of alienation, of alienated labor. But while the factories are dissolving and the work-force disintegrating, actors are still kept inside the walls. We have to fight alienation (Entfremdung) with alienation (Verfremdung): the A-Effect!

  • Do you believe in the power of text? And how this power can be transformed in worldwide theatre language?

Alex: We take pleasure in text, we believe in text-theatre, but that’s something completely different as literature-theatre. Unfortunately theatres still believe in literature instead of in theatre, that is to say: in drama not only as a form, but as the norm. That is the spirit of the 19th century, but what was still well and alive in the 20th might change in the 21st. By looking beyond the dramatic theatre there is a lot to discover: we are living in a world of texts, we read when we are awake, we write while we are asleep. With Heiner Müller we believe that the theatre of the text has not started to exist yet, but we are looking forward to its arrival like others wait for UFO’s.

  • Your last project is inspired a lot by Greece. You have returned to continue your research. What is about?

Nicola: Our project is called europe an alien and is inspired by a workshop that we were invited to give by Helene Varopoulou at the 5th theatre summer academy EXILES NOMADS REFUGEES in Soufli. We were fascinated by the sight of the Evros river, such a beautiful landscape, such a tough border: mine-fields like the death-strip that separated East from West Germany. It’s separating not only Greece from Turkey, but also the EU from non-EU or better said: not-yet-EU. This border is the ‘limes’ of the Union that prevents so-called ‘illegal aliens’, refugees and migrants to enter. For them it’s a deadly trap.

Alex: The peculiar thing about rivers is that they connect at the same time that they separate. Probably the days of the Evros as border-river are counted – just like the Rhine. You can already see the Evros-delta turn into a very special euro-region, it will attract many tourists, especially eco-tourists, for sure, which will probably be the end of the great nature which is there today – protected from people because it is a military zone! That’s why it is a natural reserve area, many birds are stopping there to rest from their natural migration routes. Ornithologists watch them with their special looking glass and are watched by soldiers with their special looking glasses…

Nicola:
We travelled back to the Evros to find out more about Europe: We came in our bus from Germany to Greece: Exit and re-enter Europe. At the Greek border we had some problems with our passports (see our webdiary: www.andco.de). We crossed seven borders on the way, the last one was the border to Turkey, where the Evros is called Meriç Nehri. And we drove to the Bosporus to cross the bridge to Asia. The tricky thing about borders is that even if they disappear, they are not gone, they just move somewhere else. We want to now: where will the border move this time? And where do you draw the border between Europe an Asia then?

Alex:
It seems that for the new Europe there are no borders, only a frontier like in the pioneer-days of the USA. This frontier is not directed towards the West but towards the East, but it is also facing ASIA as its ‘other’. Our play is alienation in itself, it is not bound to the real territorial border, but to an idea, an idea called “Europa”: europe an alien.

HÖRT

Marcus Droß, 2006-11-07

andcompany&Co. – bereits der Name dieses Theorie-, Performance- und Theaternetzwerkes mit seiner offenen wie zugleich verbindlichen Struktur ist Programm. Seit 2003 bereist die Gruppe die Weiten der postmodernen Landschaften von Theater, Kultur und Politik, um sich jeweils dort temporär anzusiedeln/einzunisten/niederzulassen, wo die jeweils aktiven Mitglieder auf Widerstände stoßen: seien es die Pforten des 2003 geschlossenen Experimentaltheaters TAT in Frankfurt, die Außengrenzen der Europäischen Union oder, wie zuletzt, der eiserne Vorhang und über seine Öffnung das Verschwinden der politischen Utopie des Kommunismus.

Eine weitere Programmatik ist dem Namen des Netzwerkes eingeschrieben: &Co. – das Prinzip des Re-Mix, oder besser, weil materialumfassender, der Re-Animation. Denn all diese Widerstände, derer sich die andcompany&Co. annimmt, werden zu Anlässen, um Ausgegrenztes, Zurückgelassenes, überwunden Geglaubtes einzusammeln und über eigene Strategien zu einem Comeback im Hier und Jetzt einer Kultur, die alles (selbst das Ende der Geschichte) überwinden zu können glaubt, zu ermöglichen.

Damit das Vorhaben einer solchen Vergegenwärtigung nicht bloße Theorie bleibt, sondern für alle Beteiligten (den Zuschauer eingeschlossen) erlebbare Praxis wird, bedarf es weiterer Strategien, die sich die andcompany&Co. auf gemeinsam wie getrennt verlaufenden Pfaden in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Von ihnen soll im Weiteren anhand mehrerer Produktionen berichtet werden.

KOMM

Nicola Nord ist als Performerin und Sängerin von Beginn an im Netzwerk der andcompany&Co. fest verankert. 2004 machte sich von ihrem damaligen, temporären Arbeitsort DasArts (Amsterdam) aus auf die Suche nach Kommunistinnen und Kommunisten. Sie sucht dabei gezielt nach Menschen, die in den Zeiten des real- existierenden Sozialismus diesseits, also westlich des Eisernen Vorhangs lebten und das im festen Glauben an eine gesellschaftliche und politische Utopie des Kommunismus – zumindest bis zu jenem Tag, an dem sich der eiserne Vorhang endgültig hob, die Mauer fiel und jedes weitere Festhalten an der Utopie obsolet zu werden schien.

Im Rahmen ihrer Recherche sprachen Anhänger der letzten großen Utopie des 20. Jahrhunderts mit Nicola Nord über die Trauer, die Leere und das Schweigen, das sich verbreitet und darüber, was bleibt, wenn einem die Utopie abhanden kommt: jede Menge uneingelöster Hoffnungen und Forderungen. Archive for Utopias, lost and found nannte Nord die auto-mobile Inszenierung ihrer gesammelten Dokumente und Materialien. Damit rollte sie durch die europäische Theater- und Festivallandschaft und verschaffte den Erzählungen der einstigen Utopisten Gehör.

USSA

Vor dem Hintergrund dieser akustischen Nahaufnahmen aus dem archive for utopias, lost and found folgt die andcompany&Co. Anfang 2006 einer Einladung nach New York. Mit dabei sind Alexander Karschnia als Autor, Performer und Theoretiker und der Sound-Artist, DJ und Musiker Sascha Sulimma. Auf dem Territorium des einstigen Erzfeindes des Kommunismus will man der Frage nachgehen, von wem und wo heute überhaupt noch über den Kommunismus geredet wird, geredet werden kann.

In REVOLUTIONARY TIMING findet die andcompany&Co. mit der Erfindung des Bühnen-Chats die Antwort und inszeniert sie in Form einer Sprech-Oper im Kurzformat. Eine low-tech Theatermaschine, die der in New York lebende Objekt- und Installationskünstler Noah Fischer für die Aufführung kreiert, liefert die notwendige Hardware. Es sind Lichtmaschinen, deren Material-Sampling manchen Bühnenmeister in Angst und Schrecken versetzen dürfte, angesichts der anarchischen Lust, mit der sicherheitstechnische Kalkulation im Umgang mit Elektrizität durch handverzwirbelte Drähte und Kontakte in kleinen Holzkisten ersetzt wird.

Ein auf diese Weise gebautes Lichtpult, Scheinwerfer, eine von Hand betriebene Lichtorgel und ein Chatroom-Setting aus Fußtretleuchten schaffen auf der Bühne eine retro-futuristische Zeitblase. Darin bewegen sich die Performer der andcompany&Co., proklamieren, singen, zitieren ihre Textmaterialien, die vom sozialistischen Liedgut bis zu antikommunistische Agitationsversuchen von Ronald Reagans reichen. Vor allem jedoch werden Chats improvisiert: „Let’s discuss the greatness and retarded ness of John Lennon here! – He’s ok, but I like Jesus better! – I hate Lennon, he was a communist! – He died like a thousand years ago, get over it buddy!“

Das, was der Chat-Generation mit großer Freude vorgeworfen wird – sich nicht mehr ernsthaft um die Generierung von Sinn zu kümmern – entwickelt durch die Verlautbarung des Bühnen-Chats ein neues, enorm musikalisches Potenzial. Der Rhythmus der schnellen Wortwechsel, die assoziative Drastik der Bezüge, die eiserne Regel, dass jeweils nur einer zu Wort kommen kann, all diese Funktionen halten das Sprechspiel Chat am Laufen. Doch vor allem halten sie den Text auf der Kippe. Jeder dramaturgische Sinn- und Vermittlungswille wird im Sprech-Chat musikalisch aufgerieben, nicht ohne Widerstand der nach Sinn strebenden Worte, doch sie alle müssen gewaltige Reibungsverluste hinnehmen, zu Gunsten der energiereicher Klangkaskaden, die dabei freigesetzt werden.

BRDDR

Eingeladen zum Festival „Freischwimmer – Plattform für junges Theater“ entwickelt die andcompany&Co. im Herbst 2006 ihre Performance „little red (play) – herstory“. In den vorangegangenen Stücken bereits als Figur etabliert unternimmt darin die junge Pionierin little red alias Nicola Nord eine Zeitreise in den Irrealis : Was wäre gewesen, wenn es in der Silvesternacht 1999 die DDR noch gegeben hätte? Aus der interstellaren Perspektive des 3. Jahrtausends, so der dramaturgische Rahmen, blicken die Temponauten der andcompany&Co. auf little red’s junge Geschichte und die politische Utopie des Kommunismus zurück und konstruiert das Doku-Märchen einer Vergangenheit, die little red’s Gegenwart hätte gewesen sein können: aus history wird herstory.

Es ist nicht das erste Mal, dass little red als Nicola Nords künstlerischem alter ego dabei jenen Spagat vollführt, der für die inhaltliche Spannung sorgt. Aufgewachsen in der BRD verbringt sie, wenn alle anderen Kinder im Sommer in den Süden fahren, die Ferien in einem Pionierlager der DDR. Dort kommt es auch zu jener, für little red’s Zeitreise relevanten Verabredung mit ihren Freunden, sich in der Silvesternacht 1999 unter dem Ost-Berliner Fernsehturm zu treffen.

Die Figur der little red ist dabei nicht das einzige Material, was in Form einer multimaterialen (Re-)Animation erneut in Erscheinung tritt. Abermals wird leidenschaftlich gesprochen, gesungen und gechattet, Text und Musik aus REVOLUTIONARY TIMING liefern betriebsinterne Vorlagen, auf die sich die andcompany stützt, wenn sie zur Sprache kommen lassen will, was ihrer Meinung nach dem Schweigen über die Utopie des Kommunismus folgen könnte: ein utopisches Erzählen, aus dem Ende der Geschichte ein Anfang für neue Geschichten wird.

So sitzt die Autorin und Performerin Bini Adamczak in little red (play) dann auch an ihrer literarischen Werkbank zwischen Papier und Low-Tech-Lichtpult und erzählt den Anwesenden von little red’s Reise durch die Zeit. Dass sich dabei der literarische Raum so weit krümmt, dass Brecht, Müller und die Gebrüder Grimm gleichberechtigt nebeneinander stehen, verwundert kaum.

Gemeinsam mit Noah Fischer fertigt die Medien- und Objektkünstlerin Hila Peled den Temponauten ihre räumliche und körperliche Ausstattung. Der Bühnenraum wird zur Textlandschaft, die an die produktivsten Zeiten der russischen Avantgarde erinnert. Zwischen Noah Fischer’s schlichten Arbeitsplätzen erhebt sich eine Text-Skyline aus Pappbuchstaben an Holzlatten: HÖRT – USSAR – BRDDR – KOMM – INTE – ZU – SPUTNIK – ON – S – U – REPUBLIK. In dieser Raumstation agieren die Performer mit überdimensionalen Masken, ob als Uhr mit losen Zeigern, als monströse Micky-Maus oder als Berliner Fernsehturm (für Alexander Karschnia).

Zu rhythmischem Leben erwacht die Textstadt im Schein der Lichtorgel, die es erlaubt, über eine im Zentrum platzierte Kurbel einzelne Leuchten, am Rand des Aufführungsraumes anzusteuern. Der Reihe nach, je nach Geschwindigkeit des Kurbelns, setzt sich die Textstadt in Bewegung, wirf ihre Schatten zu allen Seiten. So wird auch hier der Text zu Musik; ergriffen vom Puls der flackernden Lichter entschwindet der Inhalt – große Musik statt schwerer Worte. Kaum kommt die Lichtmaschine zur Ruhe, stehen die Worte in ihrer gebrochenen, pappkameradenhaften Unbeholfenheit wieder verloren im Raum herum oder versammeln sich verschämt in einer Ecke.

Es ist die enorme Souveränität der andcompany&Co., dass sie ihrem Material, ihren Mitgliedern und Zuschauern gestattet, sich permanent zu verändern. Denn alle Bühnenhandlungen, die immer (auch) akustische sind, stellen jedes Geschehen im Augenblick des Ereignisses dem Vergessen anheim. Erinnern (machen) und Vergessen (machen) sind gleichermaßen zentral. Jede Handlung, die sich eines historischen (Gedächtnis-) Materials annimmt, beinhaltet gleichermaßen eine Strategie, es wieder aus Auge und Ohren zu verlieren

Wenn Alexander Karschnia versteckt hinter einer Dagobert Duck-Maske die Frage stellt, woher nur all die Kommunisten kommen (Antwort: „Nobody knows.“) oder er sich bemüht, Bini Adamczak’s poetische Prosa über das Wollen und Wirken der Temponauten auf eine höhere Sinnstufe (in englischer Sprache) zu versetzen, oder ob Walt Disney’s Aussagen vor dem Komitee für unamerikanische Aktivitäten in einem nicht enden wollenden Fragenkatalog und Ronald Reagan’s Angst vor den Kommunisten im Bühnen-Chat zermahlen werden, trägt dies bei aller Schärfe der Inhalte auch zu ihrer Auflösung bei.

Wenn das noch nicht reicht, wird wieder die Lichtorgel gedreht oder man rennt, Hauptsache, Energie wird freigesetzt. All das bleibt stets ein Spiel, wirkt dabei angemessen ungeprobt, bleibt provisorisch, ohne Antwort. Es ist ein Spiel mit dem Imperfekten, was die Einstellung des erlösenden Sinns getrost auf jenen hellen Tag in ferner Zukunft verschieben kann und sagt: jetzt ist nur das, was ist. Das Hier und Jetzt. Das ist kein falsches Versprechen mehr, das ist wahrhafter Trost.

Archivare im kosmischen Fundbüro

Marcus Droß, herbst. Theorie zur Praxis, Magazin zum steirischen herbst 07, 2007-09-01

Der Kommunismus ist tot, das weiß seit 1989 jeder. Aber kann ein Gespenst überhaupt sterben? Das internationale Performance-Kollektiv andcompany&Co. hat in der alten wie in der neuen Welt, im Weltraum und im Irrealis recherchiert – und antwortet mit einem entschiedenen Nein. So wird in den eigenen Bühnenstücken der Utopie ein Refugium gebaut, von der russischen Avantgarde über Sputnik-Träumen zu John-Lennon-Chats.

Mehr

Sputnikschock im deutschen Theater

Esther Boldt, Nachtkritik, 2007-11-24

Bildet Banden! Oder besser: eine Band. Weil das Sprechen mit Zitaten zu ihnen gehört, kann man über andcompany&Co. vielleicht nur mit geliehenen Worten reden. Tocotronic singt: „Wir sind viele – jeder einzelne von uns.“ Und andcompany&Co. macht dazu Theater. Das Performancekollektiv, 2003 in Frankfurt am Main gegründet, versteht sich als offenes, aber verbindliches Netzwerk. Den Kern bilden Alexander Karschnia, Autor und Theaterwissenschaftler, Nicola Nord, Sängerin und Performerin sowie Sascha Sulimma, Musiker und DJ.

Ihr erstes großes Stück „for urbanites – nach den großen Städten“ zeigten sie 2004 zur Schließung des Frankfurter Theaters am Turm (TAT). Auf der Bühne: Zehn Performer und ein Klavier. Am Ende bestückten sie sich selbst und das Publikum mit Papierhüten zum Zeichen eines neuen Bundes und marschierten vor das Bockenheimer Depot. Zwei kletterten die Fassade empor und entfernten aus dem Schriftzug TAT die beiden Ts: „Das TAT ist tot, es lebe das A.“ A wie Anfang. A wie andcompany&Co. Aber das Ende des geschichtsträchtigen Avantgardetheaters mit dem Beginn von etwas Neuem gleichzusetzen, bietet sich an und verbietet sich zugleich.

Alle drei stammen sie aus Frankfurt, Alexander Karschnia und Nicola Nord studierten dort Theater-, Film- und Medienwissenschaften, Nicola Nord und Sascha Sulimma spielten in einer Band. 2004 gingen sie nach Amsterdam, weil Nord dort ein Künstlerstipendium in DasArts (The Amsterdam School for Advanced Theater Research and Dance Studies) erhielt. Als ihre „Homebase“ in Deutschland bezeichnen sie das Düsseldorfer Forum Freies Theater (FFT), das viele ihrer Produktionen koproduziert.

Offengelegte Theatermaschinerie

Nach dem andco-Prinzip haben sie bisher unter anderem mit Fotografen, Autoren, Bildenden Künstlern und Musikern zusammengearbeitet. „In gewisser Weise muss man dann das Rad immer wieder von neuem erfinden“, so Karschnia, „aber wenn es gut geht, kann man auch eine gemeinsame Sprache entwickeln. Wir glauben fest an den ‚general intellect‘ (Marx). Es gibt Gruppendenken!“ Kollaboration ist bei ihnen nicht nur ein Diskursmodewort. „Wenn man mit uns zusammenarbeitet, wird man automatisch zur Ko-Autorin, Ko-Regisseurin… Uns verbindet die Faszination für ein Thema, dazu wird dann geforscht, recherchiert, gegoogelt, daraus entstehen dann Texte, Musik…“

Dass nicht jeder andco-Produzent automatisch ein guter Performer ist, versteht sich von selbst, doch die entstehende Spannung ist beachtlich und die Chance zu Scheitern inbegriffen. Ihre Bühnensprache aber besitzt Wiedererkennungswert: Ihre Bühnen sind ausgeräumt, die Performer sitzen oder stehen an ihren Plätzen wie an Instrumenten, ausgestattet mit Textbüchern, Mikrophonen, Lampen oder Laptop. Denn Musik und Ton werden als Performance begriffen, die Theatermaschinerie offen gelegt. Umso mehr, seitdem der New Yorker Künstler Noah Fischer dabei ist.

Kein Erich Honecker ohne Dagobert Duck

Während eines Stipendiums in New York 2006 produzierten sie „Revolutionary Timing“, und Fischer entwarf dafür eine Lichtmaschine aus Stehleuchten und nackten Glühbirnen, gesteuert von einer Lichtorgel. Mit dieser Haptik, ihrer grobschlächtigen Materialität mutet die Bühne bisweilen an wie das „Raumschiff Orion“: Rettungslos anachronistisch und ziemlich futuristisch zugleich.

andcompany&Co. sucht das Theater für die Gegenwart, das mit Netzen und „dotcoms“, aber ohne Kopierschutz operiert. Sie bearbeiten politische, historische und (pop)kulturelle Themen des 20. und 21. Jahrhunderts, jedoch nie isoliert voneinander – kein Mauerfall ohne die Beatles, kein Erich Honecker ohne Dagobert Duck. Zitate markieren Verwandtschaftslinien, die – auch hier ist der Name Programm – Wahlverwandtschaften sind. Text und Musik folgen dem Prinzip von Remix und Loop, von Verdopplung und Variation, Wiederholung und Zerschneidung. Monteverdi und Kurt Weill, Ronald Reagan und Heiner Müller. Bei Alexander Karschnias Textgeflechten gilt der Rhythmus der Sprache ebensoviel wie ihre Buchstäblichkeit, sie deklinieren Wortspiele durch, klopfen sie assoziativ nach Bedeutungsmehrwert ab und werden dabei immer auch Musik.

Mit der Autorin Bini Adamczak kam bei „little red (play): herstory“ (2006) eine Stimme dazu, die sich einfügt und doch einen anderen Klang mitbringt. Auch auf der Bühne spielt Sprache eine prominente Rolle: Beim TAT-Tanz der Buchstaben um den Turm oder beim Bühnenbild von „little red“, das von der isrealischen Künstlerin Hilal Peled stammt. Eine Stadtlandschaft aus Buchstabentürmen, die vor Noah Fischers flackerndem Licht ihre langen Schatten werfen und fiktionale Bündnisse schaffen: USSR, BRDDR. Die Rede mit fremden Zungen lallt bisweilen, an Schärfe verliert sie nicht.

Zugvögel auf Kollisionskurs

„Nicht politisches Theater machen, sondern Theater politisch machen!“ agitiert Alexander Karschnia. Bei andcompany&Co. heißt es auch, sich auf die Suche nach Utopia zu begeben, nach dem Ende der großen Erzählungen den Fluchtpunkt in der Gegenwart zu verorten. Ihre Performances stellen Fragen, situieren sich innerhalb von Diskursen und übertreten sie zugleich. Wie bei einem guten Popsong oder bei David-Lynch-Filmen wird das Zitat dabei nicht Selbstzweck, gerinnt das Diskursgemetzel nicht zur Pose, sondern wird umgehend in den Rhythmus der Performance transportiert.

So montierten sie in „for urbanites“ die Historie und Gegenwart der Stadt Frankfurt und ihres Theaters mit Brechts Goldgräberstadt Mahagonny: „Ein Gespenst geht um, das Gespenst der Krise: Stadtsterben, Theatertod.“ Und erklärten kurzerhand die Nachbarstadt Offenbach – „off off“ – zur Utopie. In „Europe an Alien“ (2005/06) war es die Suche nach der europäischen Identität in Geschichte und Gegenwart, dort brachten sie EU-Europa und mythologische Vorgeschichte, Schengen und Dionysos, Flüchtlingsströme und die Wanderung der Zugvögel auf Kollisionskurs.

Kinder des Kalten Krieges

In den letzten zwei Jahren ist es das Ende des Kommunismus, das sich die Kinder des Kalten Krieges vornehmen – in „Revolutionary Timing“ und im daraus entwickelten ersten Teil ihrer Kommunismus-Trilogie „little red (play): herstory“, der im Rahmen des Festivals Freischwimmer 2006 produziert wurde und seither unter anderem in den Berliner Sophiensaelen, auf Kampnagel in Hamburg und beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel zu sehen war.

Darin drehen sie das Rad der Zeit zurück, machen aus dem Ende der Geschichte den Anfang einer Geschichte, aus history herstory. Nicola Nord erzählt als „little red“ von ihrer Kindheit und Jugend als „westdeutsches Kommunistenkind“, das in den Sommerferien in die DDR fuhr und die Jahrtausendwende mit den Pionierfreunden in Berlin feiern wollte. Doch die Utopie starb zuerst, das Lied vom Ende des Kommunismus in Europa erklang. Ein Gespenst geht um… „little red“ aber verlängert die Geschichte, negiert den Mauerfall, lässt die Utopie wieder auferstehen inklusive Feuerwerk, Rotkäppchen und Showdown in der DDR.

Tanz ins Weltall

Beim Steirischen Herbst in Graz produzieren sie derzeit mit insgesamt sieben andco-Produzenten den zweiten Teil der Trilogie, „Time Republic“ hat am 28.9. Premiere und greift zum 50. Jahrestag den Sputnik-Schock auf. Tanz ins All. Neben den zahlreichen Stückproduktionen sorgen so genannte andco-Labs, Laboratorien dafür, dass die Zeit nicht stehen bleibt. Schnelle, dreckige Arbeiten, bei denen mit unterschiedlichen Partnern Selbst- und Fremdversuche gestartet werden.

Ihre Performances lassen sich als Fortsetzungsgeschichten sehen, Re-mixe, postmodern und postdramatisch. Vielleicht ist diese stationäre Entwicklung, die Selbstwiederholung auch die einzig mögliche Strategie, auf einem Kunstmarkt zu überleben und zugleich Qualität zu behaupten, der ständig neue Produkte fordert: So machen andco mit Deleuze/Guattari „Produktion von Produktion“ wie es das Gründungsmanifest der Truppe versprach. Und weil andco nicht ohne Programmatik sein könnten, hat Alexander Karschnia für die Grazer Premiere keine kleine Ansage gemacht. Es werde höchste Zeit für einen Sputnik-Schock im deutschen Theater. Nun denn: Höchste Zeit für einen theatralen Tanz in Richtung All, der sich vor Pathos, Poesie und politischer Positionierung nicht fürchtet.

www.nachtkritik.de

Über andcompany&Co.

Esther Boldt, Goethe.de, 2010-06-06

Mai 2004. Das Frankfurter Theater am Turm wird geschlossen: „Stadtsterben, Theatertod.“ – so klingt der Abgesang der Avantgarde. Dazu tanzen fünf Performer einen albern-erhabenen Sirtaki, den Tanz der Buchstaben um den Turm. Es ist das erste große Projekt von andcompany&Co., „for urbanites – nach den großen Städten“. Darin wird die Geschichte des TAT und des Viertels Bockenheim mit Brechts Goldgräberstadt Mahagonny kurzgeschlossen: Ist das Gold, respektive die Kultur, alle, so ziehen die Goldgräber weiter. Das internationale Künstlerkollektiv jedoch zog zunächst nach Amsterdam, dann nach Berlin, wo es artist-in-residence am HAU ist. Seine Stücke liefen unter anderem beim Brüsseler KUNSTENFESTIVALDESARTS (2007), beim steirischen herbst in Graz (2007), Wiener Festwochen (2008) beim Festival Impulse (2009) und beim Dortmunder Festival favoriten 08 – Theaterzwang (2008), wo „little red“ den Preis des NRW-Kultursekretariats erhielt.

andcompany&Co. wurde 2003 in Frankfurt am Main gegründet von dem Autor und Theaterwissenschaftler Alexander Karschnia, der Sängerin und Performerin Nicola Nord und den Musiker und DJ Sascha Sulimma. Der nach vorn und hinten Anschluss schaffende Name ist Programm: Es versteht sich als offenes Netzwerk, das mit Künstlern verschiedener Sparten kollaboriert – bisher beispielsweise mit der Autorin Bini Adamczak, den bildenden Künstlerinnen und Künstlern Noah Fischer, Hila Peled und Jan Brokof, dem Komponisten Thomas Myrmel und dem Neue Musik-Ensemble MAE. Dabei ist Teil des Spiels, dass die Kollaborateure als Performer mit auf der Bühne stehen. In Laboratorien, sogenannten &Co.LABs, erarbeitet andcompany&Co. kleine, schnelle Projekte mit wechselnden Partnern, initiiert als Versuchsanordnung für eine gemeinsame künstlerische Zukunft.

Seine Stücke sind Arsenale einer Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie führt von Mahagonny aus über die (Be-)Gründung Europas („europe an alien“, 2006) zur ‚Trilogie des Wiedersehens mit dem 20. Jahrhundert‘ über Geschichte und Ende des Kommunismus („little red (play): ‚herstory‘“, 2006; „time republic“, 2007; „Mausoleum Buffo“, 2009) und das Hamlet’sche Drama des tatenlosen Prinzen („showtime. trial & terror“, 2008) zum kapitalen letzten Sommer der Indianer („West in Peace“, 2009), einem brasilianisierten Brecht („FatzerBraz“ 2010) und einem aktualisierten Lenz („Pandämonium Germanicum: Lenz im Loop“ 2011). In einer offensiven Assoziationspolitik werden die kollektiven Dachbodenschätze durchstöbert, kein Fundstück ist ungelöst vom anderen denkbar:

Der Mauerfall und die Beatles, Erich Honecker und Dagobert Duck, John Lennon und Vladimir Lenin, Karl Marx und Karl May werden zu einem dichten Verweissystem verknüpft, einem Schlagabtausch der Zitate, die Verwandtschaftslinien anzeigen. So spuken die untoten philosophischen, politischen und popkulturellen Ideen von gestern vielstimmig durch ein Theater für die Gegenwart, das mit Netzen und dotcoms, aber ohne Kopierschutz operiert. Was die Recherche zutage fördert, wird nach den musikalischen Prinzipien von Sampling und Remix verarbeitet: Himmelsrichtungen, die Ideologien und Utopien anzeigen, werden geschreddert, in neue Kontexte gestellt und verschoben.

Die Stücke von andcompany&Co. sind Geisterbahnfahrten durch kollektive Gedächtnishalden, und im Wieder- und Widersprechen philosophischer und ästhetischer Versatzstücke von gestern werden Utopiefetzen plötzlich wieder vorstellbar. In den verschollenen, wiederversprochenen Phrasen wird post-postmodern die Wirkmächtigkeit der Sprache überprüft, ihre Fähigkeit, Realitäten zu schaffen: „How to make Ernst with words?“, hieß es 2006 in der Lecture-Performance „Kriegserklärung“. Wie kann aus den Zitaten Ernst werden, Tun aus Tun-als-Ob? Damit werden auch die Bedingungen des Performens selbst zur Disposition gestellt.

Seine kollaborative Arbeitsweise schließt eng an die Verhandlungsgegenstände an, der künstlerische Prozess ist praktische Utopieproduktion: Er behauptet Heterogenität und Anschlussfähigkeit, viele Kollaborateure haben in der Bühnensprache ihre Spuren hinterlassen – und umgekehrt. Und doch sind die Markenzeichen stets unverkennbar. Die ausgeräumten Bühnen sind Textlandschaften und Erinnerungsräume, in denen sich die Handlungen der Performer ablagern, sie sind Spielräume, Materialsammlungen und Recherchewüste, in denen (fast) alles von Hand gemacht wird. Denn die Lichtmaschinerie aus Glühbirnen und anderem Gefunzel wird von den Künstlern gefahren, die komplexe Klangmaschinerie aus Gongs, einem Kinderklavier, singenden Telefonhörern und vorproduzierten Remixes von hier aus abgespielt: Die Bühnenmaschine ist Performance. An- und abknipsend werden Geschichten erzählt und wird Geschichte gemacht, mit Walter Benjamin führt die Reise in die Zukunft durch die Reste und Spuren der Vergangenheit: Blick zurück nach vorn! So betreiben andcompany&Co. Temponautentheater mit Performern als Zeitreisenden, die den Zeitstrahl als Absprungschanze in eine Zukunft benutzen.

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