Der mit dem Warenfetisch tanzt
Christian Rakow, nachtkritik, 2009-12-17
West in Peace – andcompany&Co. zelebrieren Karl Marx und Karl May
Berlin, 17. Dezember 2009. Nicht gerade der ideale Ort für Dauercamping: an einem kleinen Teich, im Schatten des Atomkraftwerks, irgendwo nahe der polnischen Grenze. Aber die Camper, die wir hier aus ihren Zelten krabbeln sehen, sind auch alles andere als idealtypische ostdeutsche Wildnisfreunde. Sie heißen Crazy Horst oder Little Rat. Und sie wollen mit uns ihre vornehmste Leidenschaft teilen: ihre Lieblingsbücher von Karl May oder Karl Marx.
Es könnte ein einfacher Campingtrip sein, mit etwas Indianerromantik, die man – wie soeben aus Leipzig von Rainald Grebe zu erfahren – in Ostdeutschland liebte. Aber wer sich schon einmal zum Frankfurter Performancekollektiv andcompany&Co. begeben hat, in ihre so heimwerkerartig anmutenden Flachbildwelten, mit Papierschnittkulissen hüben, Percussion-Utensilien drüben, der weiß: Auf eine lockere Erinnerungstour geht es hier nicht.
Wenn das Gold rauscht
Dieser "Western von gestern", den andcompany&Co. in losen Erzählfetzen, mit klang- und assoziationsfreudigen Sprachspielen und Performanceeinlagen in unseren Köpfen aufleben lassen, führt nicht nur ins deutsch-polnische Grenzland, wo die Wölfe heulen und die Hitlersche Wolfsschanze ruht. Das Grenzland entpuppt sich als mythisches Nirgendwo zwischen Ardistan, dem Flachland der Geringen und Selbstsüchtigen, und Dschinnistan, der Hochebene der Edlen und Aufwärtsstrebenden.
Auf der Wanderkarte des Philosophen dürfte diese Goldgräberfahrt ins "El Dorado" also irgendwo im gut verminten Todesstreifen zwischen Materialismus und Idealismus verlaufen – dort, wo man gern ein aufrechter Humanist (oder vielleicht gar Sozialist?) wäre, tatsächlich aber doch nur ein egoistischer Konsument und Nutznießer des Kapitalismus bleibt.
Bei aller wohltuenden Verspieltheit ist dieser Abend im Kern also betont philosophisch. Denn wer vom großen Goldrausch erzählen will, der muss mindestens auch ein Konzept davon haben, was denn da genau rauscht.
Ein Eastern von Gestern
Und also rücken die fünf Performer Sarah Günther, Alexander Karschnia, Nicola Nord, Sebastian Šuba, Sascha Sulimma&Co. mit dem Klassiker zum Thema an: Marx’ Theorie vom Warenfetischismus. Der Mensch beutet die "Eingeweide" der Erde aus, heißt es da, er birgt Gold und Silber. Und wozu? Auf dass es zu Geld gemünzt werde und fortan die Kraft besitze, ein jedes Ding zur abstrakten Handelsware zu verwandeln. Im Geldverkehr verschwindet die konkrete Arbeitsmühe, die Gebrauchsdinge anfertigt, und übrig bleibt die große Lust an Tausch und Konsum: der Wille zum Fetischdienst an immer neuen Waren.
Vor einigen Dekaden, als man noch unter der Schirmherrschaft von DKP und SDS in Lesezirkeln über dem Marx’schen "Kapital" brütete, hätten diese Passagen wohl Gähnen hervorgerufen. Aber heute? Da ist der Rückgriff auf einen der klassischsten aller "Eastern von Gestern" schon wieder innovatorisch. Besonders in der Art, wie andcompany&Co. ihn anpacken. Marx wird auf seine Rhetorik hin ausgeschlachtet, und das Verblüffende ist: die Eingeweide geben noch was her.
Mit Pollesch-Tempo
Da trägt ein Zwerg in Zaubererkluft als fleischgewordene Fetischismus-Metapher die einschlägigen Stellen aus dem "Kapital" vor und rundherum tanzen die Performer unter Masken, die mit Trabi-, Fernseher- und Stereoanlagen-Piktogrammen bemalt sind, den Tanz der "verrückten" Waren: Die Goldgräber werden mit den Marx’schen "Totengräbern" des Kapitalismus (den Arbeitern) assoziiert. Dazu rauschen die aus altlinkem Diskurs gespeisten Hirnströme: "Petting statt Pershing", wird gereimt und "Schießt die Nazis auf den Mond – das ist Raumfahrt, die sich lohnt!"
Wie bei Pollesch sitzen die Performer aufgereiht und bringen ihren Diskurs auf Touren. Überhaupt kreisen sie munter im Theaterorbit. Gerhard Stadelmaiers "grenzdebiles Hasentheater im Rammelbammel-Brüllstil" – wie der Theaterkritiker der FAZ zu einer Inszenierung von Karin Henkel am Deutschen Theater einst schrieb – wird schonungslos, wenngleich ungebrüllt, inszeniert. "Ihr seid die Krisenburg" grüßt man indirekt das Deutsche Theater. Und nachtkritik haben sie anscheinend auch verfolgt: "Das sind doch alles Zahnärzte hier!" Überall schwirren Zitate; man kommt kaum hinterher.
Der Künstler als Totenausgräber
Der old school Marxismus um Georg Lukács hätte sie für diese Selbstreferenzen und die ganzen Wortspielchen, die teils in die Nähe von DADA rücken, als Formalisten abgeurteilt. Denn das freie Spiel der Zeichen galt damals selbst als Symptom einer fetischisierten Gesellschaft. Die Zeiten haben sich nicht geändert, nur weiß der Kapitalismus mit seinen Kritikern bestens umzugehen. Er saugt sie ein. "West in Peace" – ruhe in Frieden. Aber die Künstler buddeln wieder aus. Tatsächlich zeigen andcompany&Co ein politisches Theater auf der Höhe unserer Zeit. Sie machen sich selbst zum schrägen, bisweilen berückenden Ausdruck unserer Konsumkultur, die nur die größten Optimisten (Frederic Jameson etwa) als Spät-Kapitalismus ansprechen.
"Spiel mir das Lied vom Tod des Kommunismus". Die jüngsten, ähnlich gelagerten Arbeiten, aus denen "Mausoleum Buffo" zum Festival Impulse 2009 eingeladen wurde, waren in ihrer futuristischen Anmutung sicherlich einprägsamer. Mit Campingflair und Indianerkostümen steckt dieser Abend anfangs in der Niedlichkeitszwinge und braucht Zeit, bis er seine gedankliche Schärfe entwickelt und überbordend wird. Dann erst setzt das Glücksgefühl ein: das Gefühl echter, ästhetischer Überforderung. Das Gefühl, dass hinter dem Seherlebnis ein denkenswerter Gedanke wohnt.
P.S.: "West in Peace" ist eine Koproduktion von Hebbel-am-Ufer Berlin, FFT Düsseldorf, Pumpenhaus Münster und Goethe-Institut Warschau. Und ihre eigene Finanzierungsidee haben die Performer auch mitgebracht: Drei Mal läuft der Abend erst weiter, nachdem jemand aus dem Publikum einen Euro in eine Sammelbox geworfen hat. "In diesem Western ist alles erlaubt, außer kein Geld zu haben". Da können wir jetzt kalkulieren: Bei ca. 60 Zuschauern im vollbesetzten HAU3 und einem durchschnittlichen Kartenpreis von 8 Euro liegt die Preissteigerungsrate damit bei 0,625 Prozent. Natürlich nur auf das gesamte Zuschauerkollektiv berechnet.
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