High-Speed-Flaneure wider Willen
Annika C. Schmidt, goon-magazin.de, 2008-06-17
Reuterkiez-Route – Protokoll eines performativen Spaziergangs
EINGANG – Samstag, 07. Juni 2008
Aufwachen. Kaffee trinken. Feuilleton lesen. Aufschrecken. Projekt »X Wohnungen« von Matthias Lilienthal findet wieder statt. Für jeweils zehn Minuten werden acht Privatwohnungen pro Route zur Bühne. Ein theatralischer Spaziergang in ausgewähltem Stadt-Bezirk. Nach Duisburg, Caracas, Istanbul (Tarlabasi) und verschiedenen Berliner Stadtteilen diesmal »X Wohnungen Neukölln«. Nur für wenige Tage. Wegen des performativen Settings keine längerfristige Wiederholung möglich und nötig.
Schnell Kartentelefon des HAU anrufen. Mit Glück allerletzte Karte bekommen. Nicht für parallel stattfindende Gropiusstadt- oder Körnerkiez-, sondern Reuterkiez-Route. Genaues Geschehen in den aufzusuchenden Wohnungen im Dunkeln. Aufbauen inhaltlicher Erwartungshaltung wird durch Desinformation unterlaufen.
AUSZUG – 15.50 Uhr
Erster Anordnung durch Kartenverkäufer folgen: Zehn Minuten vor Start im Café Asena (Mainzer Straße 15/ 16) eintreffen. Nähere Anweisungen abwarten. Dort Erkundigen der Kartenkoordinatorinnen nach mitgebrachtem Partner. Dann Start alle zehn Minuten nur zu zweit. Durch Dezimierung wird Publikum fokussiert. Und muss sich einander aussetzen.
Kein Wahl-Partner. Also sich englischsprechendem Fremdem vorstellen. Schriftliche Wegbeschreibung erhalten. Loslaufen und biografische Eckdaten klären. Mein polnischer Begleiter Jan Klata, heute Gast, sonst selbst Regisseur auf Körnerkiez-Route. Tour-Sprache nun Polnisch. Jeweiliger Partner bedingt Rezeption: Seine Präsenz, seine Referenzen bestimmen Erleben. Station 1 erreicht: Mainzer Straße Nr. X. Und nun? Auf Beschreibung nur Name des Regisseurs: Christophe Chemin. Kein Wohnungsweiser in Sicht. Was Inszenierung? Wo? Vielleicht dieser Laden mit den Antiquitäten? Wer? Diese ältere lesende Dame auf dem Sofa – eine Schauspielerin? Auslagerung des Theaters von öffentlicher, institutionalisierter Bühne ins Private. Privatisieren des Öffentlichen – Veröffentlichen des Privaten. Verunsicherung des teilnehmenden Zuschauers über Grenzen dieses theatralischen Raumes. Gleichzeitig be- wie entgrenzte Rezeptionssituation, schärft Wahrnehmung des alltäglichen Straßenbildes. Wir, High-Speed-Flaneure wider Willen.
Nachfragen. Dame nicht vom HAU. Kann aber Weg zur X-Wohnung weisen. Dort in völlig abgedunkelten Raum gestellt werden. Trotz vier Wänden keine vierte. Atmen eines unbekannten Dritten hören. Gelegentlich erleuchtet von Streichhölzern folgt Schizophrenie-Studie eines Schauspielers. Außerdem Tonbandaufnahme, eine Frau erzählt. Dargestellte Paranoia überzeichnet, aber doch bezeichnend. Ein Schuss fällt. »Chockeffekt«. Siehe Walter Benjamin. Ende. Keine Applaus-Zeit. Bruch mit Theaterkonventionen. Weiter. Versuch kurzer Besprechung des Stücks, gleichzeitig Schnitzeljagd nach nächster Wohnung, außerdem skeptisches Beäugen der Umgebung, ob ihrer Echtheit und Obacht, nicht überfahren zu werden. Rastlosigkeit und Multitasking nimmt Chance zu Reflexion und Abstraktion – ermöglicht Besinnung auf Wahrnehmung. Wir, Empfindungs-Ästhetiker wider Willen.
Lenaustraße. Schon fällt man in die nächste Situation. Regie: Tim / John Blue. Diesmal Aufforderung zum Setzen oder Legen ins Schlafzimmer. Allein gelassen werden. Video-Installation über Auswanderung folgt, begleitet von via Lautsprecher übertragenem virtuosem Live-Gitarrenspiel aus Küche. Zufälliger Gegenpol zur Anspannung in voriger Station. Genießen. Durchatmen. Weiter.
Sanderstraße. Regie: andcompany&Co. Freundliche Begrüßung. Vorstellung. Die Wohnung habe fünf Schlafzimmer und koste 780 Euro. Anweisung, sich in 2 Minuten aus nummerierten Zimmern jeweils offensichtliche Requisite zu nehmen. Los. Nicht ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm – sondern ein Hut, ein Ball, eine Kinderkettensäge. Dann durch Vorhang in nächsten Raum. Mikrofon wird in freie Hand gedrückt. Schon ist man fotografiert. Findet sich auf Bühne. Singt zu Keyboard-Begleitung und nach Texttafeln »Go west«. Keine Zeit für Fragen oder Verweigerung. Wir, Pet Shop Boys wider Willen. Fertig. Applaus. Auflachen. Noch Web-Adresse in Hand gedrückt zur Begutachtung des Casting-Ergebnisses. Casting? Bei Gewinn wird diese Wohnung unsere. Stutzen. Lachen. Weiter. Gute Performance, wird noch besser. Dank Hintergrundinfo dank Jan dank »X Wohnungen«-Kennenlern-Party. Vorgefundenes Material »Wohnung« hier größte Pet Shop Boy-Sammlung der Welt. Optimal genutzt! Staunen. Raunen. Legende? Egal. Team vollends aufgetaut. Wir, Profiteure vom Anderen wider Willen. In ausgelassener Stimmung weiter. Fast Verlaufen vor Lachen. Weiter. Lachen. Weiterlachen. Immer. Weiter.
Pflügerstraße. Max Müller. Nichts zu lachen. Wohnzimmer. Wohnungs-Such-Show im Fernsehen. Live singt frustrierter junger Mann über frustrierendes Leben und rennt frustriert aufs Klo. Frustrierend. Schnell weiter.
Friedelstraße. Nurkan Erpulat. Klingeln bei »X Wohnung«. Über Klingelanlage: »3. Stock. Folgen Sie der Frau!« Man folgt komplett verhüllter Frau in Wohnung. Andere fordert Ausziehen der Schuhe. Frau in Burka geht in Hinterzimmer. Auf Knien vor Schlüsselloch platziert werden. Ihr komplettes Entkleiden und Rauchen beobachten. Kein Theater ohne Strip. Wir, Voyeure wider Willen. Zumindest schreit keiner volksbühnesk. Jan: Das Klischee in Polen über deutsches Theater: Hohes Niveau, aber immer Geschrei und Nacktheit. Fremdschämen. Genervt weiter.
Weserstraße. Eric D. Clark & Troy Lopez. Herzlichste Begrüßung. Dann: »Zieht diesen Handschuh über.« Zu wenig vierte Wand? Jetzt etwas Taktiles? Setzen. Bier und Saft bekommen. Lauern, ob dem, was da kommen mag. Man soll von sich erzählen. Man spricht skeptisch. Dann die Erlösung: »Relax! Everybody sits here and waits for something to happen. This is the station where nothing happens.« Verweigerung von Sinn-Produktion. Eine Beckett-Station also. Aufatmen. Losquatschen. Wohlfühlen. Bleiben wollen. Klingeln des Assistenten wegen Überschreitung des 10 Minuten-Intervalls ignorieren. Lachen. Reden. Zur Ruhe kommen. Handschuh-Einsatz: Crêpe selbst füllen. Gut essen. Des Rätsels Lösung als Visitenkarte finden: Troy hat Catering-Service. Auf nachfolgende Besucher-Gruppe stoßen. Leider weiter müssen. Sich vornehmen, wiederzukommen. Wir, fremde Freunde, weiterziehend wider Willen.
Weichselstraße. Regie: Janek Müller/ Olaf Helbig. Leise sein sollen. Oper habe schon angefangen. Jetzt 2. Akt des »Freischütz«. Vorherige Geschehnisse werden einem durch Tür zugeflüstert. Dann öffnet Freischütz. Dann öffnet Andreas Schug. Führt ins Wohnzimmer. Lässt Platz nehmen. Schießt mit Sportbogen vom Balkon quer durch Wohnzimmer auf Foto. Von Höfen der Ideal-Passage. Wo wir sind. Schug erklärt Geschichte der Wohnanlage, die nach Motiven des Freischütz gebaut. Bringt zur Tür. Reicht Karte mit Foto von sich und Text über Ideal-Passage und seine Berufungen: Bogenschießen zur Meditation und Biografien schreiben. Froh – weil nicht angeschossen – weiter.
Sonnenallee. Letzte Station. Ist der Rede nicht wert.
Team-Besprechung. Resümieren. Adressen tauschen. Einladung zu Jans »X Wohnung« bekommen. Ok, morgen. Sich trennen. Weiter.
Sonntag, 08. Juni. 2008. Thomasstraße. Bei Jan. Zu Gast bei Freunden. Diesmal Wahl-Partner. Der auch gleich entgrenzt. Als X-Wohnungs-Wieder-Gänger kann man beruhigen: »Nein, das ist keine Kunst, das ist eine Baustelle!« Aushandeln mit Assistentin, warum mit Ticket von gestern um Einlass von heute bitten. Man wird vorgelassen. Alles voll mit Musik-Equipment. Mann sitzt auf Hocker. Guckt distanziert. Sagt nichts. Macht Geste, Geld in Gitarrenkoffer zu werfen. Man folgt. Er beginnt. Erzählt mit Text-Karten seine Geschichte und die seiner Wohnung. Er heißt Kalle, ist Musiker, dies ehemalige Sargausstellungshalle, selbst umgebaut. Erst jetzt fällt Sarg-Installation ins Auge. Er glaubt an Reinkarnation. Er war… Er wird… Er hat Jimi Hendrix getroffen. Man soll ihm folgen. Sein erstes Lächeln. Ist in Mini-Studio. Zu Tonband-Gitarren-Aufnahme spielt er Schlagzeug und singt frei nach Jimi Hendrix: »Hey Joe, sag mal, was macht die Waffe da in deiner Hand…« Man tanzt. Nach Zeilen »Ich glaub, ich werde runtergehen nach Mexiko, dort wo ein Mann noch frei sein kann. Hey Joe, lauf los« – rennt Kalle raus. Verwunderung. Warten. Ende? Ihm folgen. Er weg. Aber Schild mit Pfeil nach draußen. »Mexiko«. Lachen. Draußen noch CD mit Kalles Lied bekommen.
Weiter…
FORTGANG
Ins Ungewisse. Nächste »X Wohnungen«? Sich vornehmen, wiederzukommen. Zu fremden Freunden, als High-Speed-Flaneur wider Willen.
:: Matthias Lilienthal (Idee & Konzept), Dunja Funke und Christoph Gurk (Kuration und Dramaturgie): »X Wohnungen Neukölln«, 05. bis 08. Juni 2008
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