STIMMUNG! Es lebe…
27.02.2010. Über Deutschland tobt Xynthia, ein gewaltiges Sturmtief: Häuser werden abgedeckt, Bäume entwurzelt, Wanderer erschlagen. Es ist der Morgen nach einer Aufführung in Mülheim a. d. Ruhr. Man hatte uns gewarnt, frühzeitig oder gar nicht erst aufzubrechen. Wir schlugen die Warnungen in den Wind und – blieben stecken. Doch wir hatten Glück: Unser ICE blieb erst kurz vorm Frankfurter Flughafen liegen. Wir begaben uns rasch nach oben in die Abflughalle. Hinter den Fensterwänden sahen wir Xynthia vorbei fegen: Bäume bäumen sich auf, Zettel, Tüten, Zeitungen rasen durch die Luft. Wir wagen uns ins Freie, vor der Drehtür jagt der Sturm Blätter am Boden im Kreis herum. Xynthia zerrt an uns, wir müsssen uns dem Wind mit aller Kraft entgegen stemmen. Da klingelt mein Telefon: „Hallo, hier ist Lu…“ höre ich eine vertraute Stimme aus der Ferne. „Wer ist da?“ schreie ich zurück. „Lutz.“ Ich brülle zurück: „Lutz! Ich bin im Sturm, Moment.“ Ich laufe im Winkel von 45 Grad über den Boden geneigt auf ein Auto zu, die Tür wird mir fast aus der Hand gerissen und lasse mich ins Innere fallen: „Jetzt.“ Lutz: „Hast Du Dich in eine Telefonzelle geflüchtet?“ – „Ähh, so ähnlich.“ – „Habt ihr nicht Lust, bei uns die Wunderkinder zu machen.“ So fing’s an. Ich rufe ins Telefon, als sei ich immer noch im Sturm: „Wunderkinder?“ Da war doch was. „Genau“, sagt Lutz: „Mit Wolfgang Neuss & Wolfgang Müller.“ Vor mir sitzt Wolfgang Nord, Nicola’s Vater vorm Steuer und manövriert vorsichtig durch den Sturm – wir sind auf der Autobahn, alle fahren maximal 50. Wolfgang ist hochkonzentriert, doch jetzt nickt er heftig: „Toller Film! Bester Film über diese Zeit!“ Welche Zeit? Diese „Schwarzweiß-Zeit“, sagt er, die so genannte „Nachkriegszeit“. Was soll das eigentlich heißen – die „so genannte“, fragen wir uns. Leben wir denn heute nicht immer noch in dieser Zeit? Oder was ist das für eine Zeit heute? Schon wieder eine Vorkriegszeit? Mit genau dieser Frage beginnt der Film in einer Nachkriegszeit, die unmittelbare Vorkriegszeit ist: das Jahr 1913. Nur wussten es die meisten damals noch nicht. „Das ist ja das Schöne am Frieden, dass man die Erinnerung an alte Kriege immer wieder aufwärmen kann.“ heißt es am Anfang über die Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig. Wenige Monate später beginnt der Erste Weltkrieg und mit ihm jenes 20. Jahrhundert, von denen manche sagen, dass es außerordentlich kurz gewesen sei (Eric Hobsbawm z.B.). Das Kaiserreich zerbrach und was kam dann? Der Frieden? Die Republik? Na –
STIMMUNG! Es lebe die Nachkriegszeit,
die ist fast so schön wie die Vorkriegszeit!
Es ist doch wahrscheinlich was dran an den Demokratien!
(Woll’n Se nich ’ne kleine Prise Kokain?)
singen Neuss & Müller über die ‚roaring 20’s in Deutschland, die die Depression der Niederlage verwandelten in eine überdrehte Boom-Euphorie. Ein Schub befreiender Energien fuhr wie ein Sturm durchs Land: Befreiung der Sitten, der Frauen, der Körper, der Liebe, der Kunst, der Politik, der Musik, der Jugend… Avantgarde-Kunst, Jazz, Drogen, Bohème-Leben, Promiskuität, wildes Denken, radikale politische Bewegungen. Bis zum Ende des Jahrzehnts: 1929. Schwarzer Freitag, Börsen-Crash. Krise. Der Aufstieg des Nationalsozialismus. Davon handelt der größte Teil von Wir Wunderkinder. Wir sind restlos begeistert, spätestens seit dem STIMMUNG-Song von Wolfgang & Wolfgang instant fans. Songs wie aus einem Brecht-Stück! Aus jener legendären Zeit der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie anders war die Zeit, in der der Film gemacht wurde, jene fünfziger Jahre! Eine graue Zeit, sagen die, die damals jung waren: „Schwarzweiß-Zeit“. Das Gegenteil der bunten 20er. Die Farbe kam erst später, in den 60ern: Farbfilme, Fernsehen, Konzerte, Krawalle, Massenproteste. Woodstock. Hippies. Latsch-Demos. Studentenbewegung: Sit-Ins, Teach-Ins, Be-Ins: Love & Peace. Sex, Drugs & Rock’n’Roll: the new20’s, die Zeit der Jugend-, Schüler- und Studenten-, Frauen-, Friedensbewegung, die Befreiung vom Mief der 50ern, der Adenauer-Republik, dem „CDU-Staat“ (wie es damals hieß). Das war das 20. Jahrhundert: zweimal Nachkriegszeit, im Abstand von 30 Jahren, dem Leben einer Generation. Es ist diese „Erlebnisgeneration“, von der dieser Film handelt, die es heute kaum noch gibt, bzw. immer weniger, eine Handvoll Hundertjähriger. Der Film ist jedoch nicht nur für sie gemacht worden, sondern für ihre Kinder, die wie sie damals Kinder waren während des Krieges: Kriegskinder. Wunderkinder. Kinder des „Wirtschaftswunders“. Unsre Eltern. Faszinierend, wie sich die Reaktionen auf den Film ähneln: „Kennen Sie den Film Wir Wunderkinder?“ STIMMUNG! Es ist doch wahrscheinlich was dran an diesem Film, denken wir uns, der ältere Menschen sofort zum Singen bringt. Und was für Lieder. Böse Lieder: „Es lebe die Nachkriegszeit, die ist fast so schön wie die Vorkriegszeit.“ Aber was hat das denn mit heute zu tun, fragt Henning Rischbieter, Gründer und ehemaligen Herausgeber von THEATER HEUTE. Es ist tief in der Nacht, ich bin auf einer Geburtstagsparty von Theaterleuten und habe ihm – nachdem er erzählt hatte, dass er nach dem Krieg in Göttingen studiert hatte – unvorsichtigerweise verraten, dass wir WUNDERKINDER am dt Göttingen inszenieren würde. „Total viel!“ sag ich. Er blickt spöttisch, ungläubig und unglaublich weise. Ich rudere mit den Armen: „STIMMUNG, die Nachkriegszeit…“ Er entschuldigt sich mit einem Murmeln und erhebt sich. Neben mir sitzt die Dramaturgin eines bekannten Berliner Theaters: „STIMMUNG, die Nachkriegszeit“, versuche ich umständlich zu erklären, so ein Song… Die Frau ist aus dem Osten, Jahrgang 1957, sie nickt wissend. Kennt’se. Der Film lief ja auch in der DDR, hatte da Bombenkritiken bekommen (was war wahrscheinlich der Grund für die schlechten Kritiken in der westdeutschen Presse war), internationale Preise gewonnen, in den USA und der SU. Und es war der erste deutsche Film, der in Israel gezeigt wurde, wochenlang waren die Tel Aviver Kinos voll. Ein Jahrhundertfilm, ein Film über das Jahrhundert: Ein Jahrhundert, über das man sich nicht genug wundern kann. Staunen. Doch das Staunen darüber, dass so etwas wie der deutsche Faschismus möglich war, sei unphilosophisch, habe Benjamin zu Brecht gesagt, belehrt mich ein brasilianischer Freund. Als ich mit ihm von der Party nach Hause gehe regnet es in Strömen, es ist sehr dunkel, wir sind total durchnässt, ich versuche die deutsche Geschichte zu erklären. Zusammenfassend: „Vorkriegszeit, Nachkriegszeit, Vorkriegszeit, Nachkriegszeit.“ – „Vorkriegszeit?“ – „Das ist die Frage.“ Mein Freund versteht mich.
„Aber wir sind doch wieder im Krieg!“ schimpft ein andrer Freund, nachdem er unser letztes Stück gesehen hatte: FatzerBraz. Brechts Stück über vier Deserteure aus dem Ersten Weltkrieg, die sich in Mülheim a. d. Ruhr verstecken. Dort warten sie auf ein Wunder. Sie warten darauf, dass sich die Bevölkerung erhebt gegen den Krieg, dass sie die Regierung stürzt, den Kaiser verjagt und seine Generäle, Junker, Adlige… Ein Sturm der Befreiung, der ausbleibt. Am Ende bringen sie sich gegenseitig um. Brechts bestes Stück, allerdings Fragment geblieben. Mein Freund schimpft, wie lasch ich den Text über die Desertion gesprochen hätte: „Aber wir sind doch wieder im Krieg! Das ist doch hochaktuell!“ Wir diskutieren, was Desertion heute heißen könnte. Wie zur Antwort hängt an einer Litfaßsäule ein Plakat, illegal geklebt über die Werbeflächen: „Desertieren!“ steht dort vor einem verwackelten Video-Still von einem Toten vor einem Tanklastwagen. Afghanistan, Kunduz. Und: „Deutschland ist im Krieg“. Kann man alltagssprachlich so sagen, hat der ehemalig Verteidigungsminister gesagt. „Ehemalig“seit gestern, 2.3.11. Guttenberg heißt zwar immer noch Freiherr zu, aber nicht länger Dr. Was hat Germany’s last Superstar denn damit zu tun, der „coole Baron“ (Ulf Poschardt)? Auch so ein sog. „Junker“, die damals des Kaisers Hof gebildet haben, dann des Hindenburgs Lobby und zu letzt des Hitlers Helfer, sagt mein Freund. Bis sie ganz zu guter letzt des Hitlers Attentäter hatten werden wollen und am Strick (einer Klaviersaite) endeten, wo bis gestern, bzw. heute morgen Guttenberg residierte: am Bendlerblock. Sein Cousin Henckell von Donnersmarck hatte versucht, Tom Cruise zu helfen, dort 2007 eine Drehgenehmigung zu bekommen für Operation Valkyre, um sich am Originalschauplatz erschießen zu lassen und zu rufen: „Es lebe das Heilige Deutschland!“ Aber was hat das mit den Wunderkindern zu tun? Nun, nach so einem Jahrhundert kann man sich nur wundern, dass man immer noch da ist – sagt Neuss im Trailer vom Film. Und da hat er doch recht: immer noch! Gerade als Nachgeborener kann man sich nicht genug darüber wundern, dass man überhaupt auf der Welt ist, bzw. dass unsere Eltern überhaupt auf die Welt kommen konnten, damals. Und wie viele nicht auf die Welt kamen, nie auf die Welt würden kommen können, da ihre Eltern das niemals werden konnten: ihre Eltern. Die Wunderkinder, das sind wir selber, Kinder der Wunderkinder, Kindeskinder: „Kinder einer wunderlichen Zeit, die voller Tüchtigkeit immer neue Wunder schaffen und sie stolz bewundern in ihrer Wunderwirklichkeit!“ Kinder von Mythen: WW (Wirtschaftswunder), WA (Wiederaufbau) – und eben auch WB (Wiederbewaffnung). Wir-sind-wieder-wer! Nur wer? Wehrpflichtige… In dieser Art spottete Neuss damals, doch damit ist jetzt Schluss: Wehrpflicht, Bürger in Uniform, Guttenberg-sei-Dank. Und einen WA haben wir auch hinter uns, der hieß AUFBAU OST und ist so gut wie abgeschlossen, heißt es. Doch das Wunder, das die Ossis damals erleben sollten, war oft ein blaues. Das waren die 90er, unsre Nachkriegszeit: Nach-Kalte-Kriegszeit. Auch das längst Geschichte heute. Aber was hat der Film denn nun mit heute zu tun? Ich verrate nur so viel: Exakt fünfzig Jahre nachdem der Film gedreht wurde, endete die Zeit, die er besungen hat: die wunderbare Wirtschaftswunderzeit. 79 Jahre nach dem Schwarzen Freitag. Dass man seit einiger Zeit flüstert, wir bräuchten dringend ein neues WW verrät, dass sie nun wohl endgültig vorbei ist. Oder uns unmittelbar bevorsteht: STIMMUNG!
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