TEMPONAUTEN-THEATER

Es wird Zeit, dass es Zeit wird

>Wenn alles unter Kontrolle ist, fahren Sie noch nicht schnell genug.< Das ist der Sound des Neoliberalismus. Klingt mitunter ganz witzig, wie Lenin auf Speed. Dennoch – seit Jahren beherrscht mich ein merkwuerdiges Gefuehl der Zeitlosigkeit. Als ob der Globalisierungs-Countdown nach 1989 ins Leere gelaufen sei. Vielleicht ist auch eine Schallmauer durchbrochen worden und wir befinden uns im freien Fall nach oben. Eigentlich herrscht nur in den Metropolen rasender Stillstand, waehrend die Walze der Weltwirtschaft durch die Peripherie mahlt.

Man wird das Gefuehl nicht los, man muesse noch mal zurueck ins Jahr 2000 – haben wir nicht irgendetwas Wichtiges vergessen? Vielleicht ist es auch eine globale Depression, die eingesetzt hat, nachdem man sich ein ganzes Jahrhundert auf das neue Jahrtausend gefreut hatte. Wenigestens die Atomwaffen haette man ja abschaffen koennen – hatten uns das nicht Gorbatschow und Reagan einmal versprochen? So jedenfalls werden wir die Gespenster des 20. Jahrhunderts nicht los… Ausserdem: Wie killt man eine digitale Uhr? Das sind Fragen, die mich zur Zeit umtreiben – denn: Zeit ist Frist!

Collaborations mit US-Amis verstaerken das Abendlandgefuehl, da kommt man sich schnell ganz alt-europaeisch vor: Was wir schon alles hinter uns haben, wenn die gerade erst aufstehen… Instant Jet-Lag! Ich liebe Telefonlaeden, in denen verschiedene Weltzeituhren haengen, mein Bildschirmschoner ist eine Zeitzonenkarte. Die Zeitzone hat eine grosse Zukunft vor sich, Sonderzeitzonen werden noch eine bedeutende Rolle spielen – als Ausnahmezustaende und ausgesonderte Wirtschaftsbereiche. Wenn es ein Versprechen der historischen Avantgarde gibt, das nicht aufgebraucht ist zu Beginn des neuen Milleniums, dann ist es die Entdeckung dieses neuen Kontinents: der Zeit. >Wehe, schwarze Fahne der Zeit!< [Velimir Chlebnikov, erster Praesident des Erdballs, 1920]

Fuer unsere Arbeit ist die Chat-Kommunikation aeusserst wichtig, Protokolle von Geistergespraechen mit Zeitleisten. Diese Form des schreibenden Sprechens hat ja eine natuerliche Naehe zum Theater. So ist auch der Titel fuer unser erstes &Co.LAB mit dem bildenden Kuenstler Noah Fischer entstanden: >Revolutionary Timing<. Mir ist erst durch die Lektuere von Lenins April-Thesen die Bedeutung des Timings klar geworden. Dabei muss hinzugefuegt werden, dass es in unsrer Arbeit den Streit zweier Linien gibt: einer beschleunigenden, eher Leninschen Typs und einer verlangsamenden, eher Maoschen Typs: >Lieber eine sozialistische Verspaetung als kapitalistische Puenktlichkeit!< Das ist das Ethos unsrer Ko-Autorin und Mitperformerin Bini Adamczak. In ihren Augen ist die Arbeit im Theater purer Fruehkapitalismus. Und das stimmt ja auch. Zeit ist Frist – bis zur Premiere. Kein Stress, kein Spass…

>Time Republic< ist der zweite Teil unsrer Kommunismus-Trilogie, die wir mit dem Stueck >little red [play]: herstory< begonnen haben: Die Geschichte einer jungen Pionierin, die aus dem Westen stammt und im Sommer immer ins Kinderferienlager in die DDR gefahren ist wie Alice ins Wonderland statt in die Toskana wie ihre Schulfreundinnen. Nun sehnt sie sich ins Jahr 2000 zurueck, zu dem sie sich mit ihren Ost-Freunden am Alex an der Weltzeituhr verabredet hatte. Dieses Mal kruemmt sich die Raumzeit, little red trifft little blue aus der SU, Lenin lebt, John Lennon stirbt…

Uns interessiert die Figur der Temponauten, der Zeitfahrerinnen. Bei uns geht es immer um einen historischen Re-Mix, diesmal mixen wir Sputnik-Schock, Kuba-Krise, Mondlandung, die Ermordung John Lennons und die Aufloesung der Sowjetunion mit den alten futuristischen Fantasien der 10er und 20er Jahre: Es geht um den Aufbruch der Menschheit in den Weltraum, den Ausbruch aus der raeumlichen Beschraenkung. Ausschlaggebend war die Bemerkung Derridas nach seiner Rueckkehr aus Moskau 1990, das Utopische an der UdSSR sei ihr Name gewesen, da er keine Referenz auf ein reales Territorium in sich trage. Das korrespondiert mit den Forderungen Chlebnikows, der den ersten Zeitstaat ausgerufen hatte: >Raumstaaten erzittert!< Vielleicht hat die Zeitrepublik ja schon laengst begonnen…

Die Reihe >Telling Time< in den Sophiensaelen verstehen wir als Chance, fuer 74 Minuten eine Zeitrepublik auf der Buehne zu errichten, eine Sonderzeitzone. Erzaehlen heisst aufschieben, das Ende – den Tod – aufzuschieben. Diese Funktion hat schon seit geraumer Zeit eine besondere Klasse uebernommen, die kreative Klasse oder wie auch immer man sie nennen will. Wir traeumen von einem Theater, in dem das Publikum zum Ko-Narrator wird, in dem die Geschichten, weil sie offen bleiben, weitergehen. Die Zeit ist aus den Fugen, doch wir sind nicht gekommen, sie wieder einzurenken. Erst wenn man Arbeit in Herzschlaegen misst – und nicht in abstrakter Zeit – werden wir wissen, was das ist: Kommunismus. Das oder ein kollektiver Infarkt als Fortschrittstat. Zeit, zu enden…

Alexander Karschnia

Autor

Alexander Karschnia