Freies (d.h. freies) Theater

Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart eines Wortes


1968 und die Folgen:

Zur Vorgeschichte der Studentenrevolte gehört die Einladung des liberalen Journalisten Erich Kuby als Gastredner zum 20. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands durch den AStA der FU Berlin und seine Ausladung durch die Uni-Leitung. Kuby hatte es gewagt, den Uni-Namen dafür zu kritisieren, „dass in dem Worte ‚Freie Universität’ eine innere antithetische Bindung an die andere, die unfreie Universität jenseits des Brandenburger Tores fixiert ist, die für meinen Begriff (…) mit den wissenschaftlichen und pädagogischen Aufgaben einer Universität schlechthin unvereinbar ist.“ Es kam daraufhin zu ersten größeren Protesten der Studenten gegen dieses Hausverbot und zu Aktionen wie auf dem Campus in Berkley, wo gerade das „free speech“- movement begonnen hatte. Mit dem Beginn des sog. „freien Theaters“ in der Bundesrepublik hat das zunächst nichts zu tun, doch kommt keine Diskussion ohne eine Kritik dieser Selbstbezeichnung als „frei“ aus. Zu Zeiten des Kalten Krieges gehörte dieses Wort noch eindeutig zu den Waffen jenes Krieges, die von der Seite des sich selbst so nennenden Westens gegen die andre ins Feld geführt wurde und ideologisch die untrennbare Verknüpfung von parlamentarischer Demokratie und eines Kapitalismus meinte, der ausschließlich als „freie Marktwirtschaft“ bezeichnet werden wollte. Gerade in Westberlin waren daher Bezeichnung wie „Freie Universität“ oder „Freie Volksbühne“ üblich geworden. Doch gerade an diesem Haus (heute das Haus der Berliner Festspiele), das in einer unübersehbaren inneren antithetischen Bindung an die andere, unfreie Volksbühne jenseits des Brandenburger Tors fixiert war, entzündete sich im Zuge der 68er Bewegung der Protest, wurden die Fragen laut nach Demokratisierung oder Mitbestimmung (wie man das später entschärfend genannt hat). Und das war auch gut so. Denn damit erinnerte es an den Ursprung der Volksbühne in der „Freien Bühne“ von 1890 und ihrer Forderung: „Die Kunst dem Volke!“ Dieses Volke war zu jenem Zeitpunkt noch nicht die Gemeinschaft von Prolet- und anderen Ariern, sondern nur der Proletarier, gegen deren Ausgrenzung aus der bürgerlichen Kultur man kämpfte. Und hier verliert sich die Spur des „freien Theaters“ wieder, bzw. verwischt und wird eins mit dem Ursprung des deutschen Stadttheaters, denn genau darum ging es da ja auch – zumindest liest man in letzter Zeit wieder öfters: Das deutsche Stadt- und Staatstheatersystem sei eine soziale und demokratische Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung, die das Bürgertum an seinen „Traum von einem Nationaltheater“ (Lessing) erinnert habe, in dem alle Stände vertreten sind, den sie einst gegen das aristokratische Hoftheater geträumt hatten. Die letzte Bewegung, die das Bürgertum an seine Träume erinnert hat, war die der Studenten 1968. Diese Behauptung würden wahrscheinlich die meisten der Beteiligten heute unterschreiben, aber dadurch wird sie nicht wahrer. Die Wahrheit ist, dass diese Geschichte so nur in den Niederlanden stimmt: Dort flogen 1969 im Zuge der „Aktie Tomaat“ die Tomaten und änderten den Lauf der Geschichte. Denn in den Niederlanden wurde kurz darauf das gesamte Subventionssystem, das noch keine dreißig Jahre alt war (man hatte es von den deutschen Besatzern übernommen) umgekrempelt, um nicht mehr nur Institutionen zu fördern, sondern unmittelbar Künstlerinnen und Künstler. Man manifestierte den Willen, sie ihr eignes Repertoire schaffen zu lassen, indem man in ihre künstlerische Entwicklung investierte und ihnen Zeit gab, eine eigne Sprache auszubilden, eigne Formen, u.a. dadurch, dass sie mit jungen Autorinnen und Autoren kooperierten, aber v.a. indem sie selbstbestimmt produzieren konnten. Das hieß in der Regel, dass sie sich entscheiden konnten, mit wem sie in welcher Konstellation z.T. über Jahrzehnte (wie z.B. Maatschappij Discordia) zusammen arbeiten wollten. Dadurch ist eine einmalige Produktionslandschaft entstanden von 22 freien Produktionshäusern, die gut miteinander vernetzt arbeiten und den Theaterschaffenden ein Pendeln zwischen großen und kleinen Strukturen und ein „Hindurchstromen“ ermöglicht (und die heute durch die massiven Kürzungen in ihrer Substanz bedroht ist). Das ist die Geschichte eines wahrhaft „freien Theaters“, doch leider nicht des deutschen. Hierzulande kam statt einer Blüte von 1000 Gruppen die Blüte des sog. „Regietheaters“, das die Institution eben nur erneuerte, statt zu wirklich umwälzenden „Neuerungen“ zu führen wie Brecht es gefordert hatte. 1968 war nicht der Beginn einer Tradition der Innovation, einer sich selbst generierenden neuen Generation von Macherinnen und Machern wie in den Niederlanden, sondern die letztendlich langweilige Geschichte einiger Sieger, die sich durchgesetzt haben und die vakant gewordenen Machtpositionen errungen und z.T. bis heute nicht geräumt haben. Und dennoch: 1968 war nicht zuletzt ein Aufstand im Theater, von Theaterleuten: jenem Dramaturgen der Schaubühne, der die fünf Eier besorgt hat, die bei der ersten großen Demo gegen den Vietnamkrieg aufs Amerika-Haus geworfen wurden, von Wolfgang Neuss, der in Peter Steins Inszenierung von Peter Weiss’ Viet Nam Diskurs in den Münchner Kammerspielen für den Vietcong sammelte, den Go-Ins in laufende Vorstellungen, um mit dem Publikum über die Notstandsgesetze zu diskutieren und über das, was plötzlich wieder Kapitalismus hieß. Der Brecht-Boykott wurde durchbrochen, es folgte eine wahre Brecht-Flut, die deutsche Räterepublik wurde reenacted (Peter Zadeks Rotmord) usw. Die „freien Gruppen“ (Kollektive), die sich damals von den Stadttheatern abwandten und aus den für sie bereitgestellten Nebenspielstätten und Studios abwanderten, um eigne Häuser zu gründen oder in der Tradition der Theatertruppen umherzuziehen, waren geprägt von „physical theatre“, Artaud, Grotowski und verschiedenen außereuropäischen Einflüssen. Ihr Einfluß auf die heutige Generation freier Theaterschaffenden ist gering, dennoch stehen auch wir in ihrer Tradition. Erst als die Phase der „deutschen Kulturrevolution“ zehn, fünfzehn Jahre später endete, begann die Zeit des sog. „freien Theaters“.


1980 und die Folgen:

Es war die Zeit, in der der Kapitalismus plötzlich wieder überall „freie Marktwirschaft“ genannt wurde – oder, wenn das K-Wort noch benutzt wurde, dann mit leuchtenden Augen: das waren die Boom-Jahre der 80er, das Jahrzehnt der Yuppies, aber auch der Punks und Ökos, der Latsch- und Friedensdemos, Hausbesetzungen (populär wurde dafür das niederländische ‘kraak’) und Krawalle. Zur Vorgeschichte der Jugendrevolte, die 1980/81 in mehreren europäischen Städten gleichzeitig ausbrach, gehören auch die Ausschreitungen vor dem Züricher Opernhaus, nachdem die Stadtverwaltung die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum abgelehnt hatte, zugleich aber dem Opernhaus eine Förderung von 60 Millionen Franken zusprach („Opernhauskrawalle“). Viele der neuen Produktionsstrukturen für Theater stammen aus dieser Zeit: Mit einem Mal wurde das Wörtchen „frei“ wieder häufig verwandt: „atomwaffenfreie Zone“, „Republik freies Wendland“ und v.a. das aus den Piratenradiostationen entstehende „freie Radio“. Es meinte Selbstbestimmung, Autonomie, Unabhängigkeit von Markt & Staat. In dieser Tradition steht die Bezeichnung des „freien Theaters“, doch nichts davon trifft heute mehr zu: weder die Unabhängigkeit vom Staat, denn auch die „freie Szene“ wird durch die öffentliche Hand finanziert, noch vom Markt: Gruppen der „freien Szene“ haben sogar einen viel direkteren Zugang zu den großen Marktplätzen, den internationalen Festivals, als Stadttheaterproduktionen. Sie sind mobiler, flexibler, innovativer, kurz: sie sind das, was man sich unter einer postfordistischen Arbeitskraft vorstellt. Die Freiheit, die wir meinen, wenn wir vom „freien Theater“ sprechen, ist die Freiheit der Arbeitskraft, sich verwerten zu lassen – oder auch nicht. Das Wörtchen „frei“, mit dem wir heute in der Zeit der sog. immateriellen Produktion zu kämpfen haben, steht für „frei“ wie „Freibier“, das inflationäre „free“ der „free pics“ oder „free downloads“: Es ist das, was der Amsterdamer Internetkritiker Geert Lovink die „dictatorship of the economy of the free“ nennt. Der dritte Sektor jenseits von Staat & Markt (und totaler Verarmung) bleibt zu entwickeln, noch ist er besetzt von den sozialen Netzwerken wie facebook, die von unsrer Kreativität leben, den sog. „user-generierten Inhalten“. Wir sind heute alle Arbeiterinnen und Arbeiter einer neuen Industrie: der creative industries. Und dennoch ist das kein Grund zur Klage, zum Kulturpessimismus: Es herrscht zwar ein „neuer Geist des Kapitalismus“ (Boltanski & Chiapello), der mit einem „kreativen Imperativ“ operiert und uns zur Selbstbestimmung, der sog. „Eigenverantwortung“ zwingt, doch auch diese Freiheit ist erkämpft worden – nicht durch Arbeitskämpfe, sondern durch „Nichtarbeitskämpfe“ (Kai van Eikels), durch Verweigerung, Rückzug oder Flucht nach vorn. Ich nenne dieses Konzept in Anlehnung an den italienischen Operaismus („Arbeiterismus“) der Einfachheit halber „Performerism“. Es meint den Aufstand der kreativen Arbeitskraft gegen seine Einsperrung in den Fabrikmauern, respektive den Mauern des Stadt- und Staatstheaters. Es ist ein Exodus. Diese Geschichte hat 1968 begonnen: Wir haben uns auf den Weg gemacht – und auf diesem Weg sind wir noch immer. Keiner weiß, wo er hinführen wird, aber eines weiß man mit Sicherheit: „Der Weg bleibt bestehen, auch wenn das Ziel explodiert!“ (Christoph Schlingensief). Wir sind maßlos, ungeheuerlich – man kann uns nicht evaluieren – doch das Gute ist, nicht nur wir, sondern die Arbeit als solche. Das, was wir auf die Bühne bringen, mag diskursig sein oder extrem körperlich, sprachlastig oder rein gestisch, bilderstark oder -arm, aber es ist immer: lebendige Arbeit, „das gestaltende Feuer, die Vergänglichkeit der Dinge, ihre Zeitlichkeit, als ihre Formung durch die lebendige Zeit“ (Marx) – und damit der Vorschein dessen, was aus der Gesellschaft wird, bzw., was sie schon ist, aber noch nicht wahrhaben will, längst geworden zu sein. Wir sind ein Bild aus der Zukunft: die Gegenwart. Für eine freie und d.h. freie Gesellschaft!

Autor

Alexander Karschnia

Veröffentlicht

2013-03-15