Sanna, Gilgi, Kully: Es sind zeitlose Namen, die Irmgard Keun ihren Protagonistinnen verlieh und die auch örtlich kaum zuzuordnen sind. Letzterer, Kully, ist der Name eines Mädchens, das nirgendwo zu Hause ist. In Keuns Roman „Kind aller Länder“ flieht sie mit ihren Eltern vor den Nazis durch Europa. Stets fehlt Geld, Visa laufen ab. Grenzen, die niemand sieht, aber jeder fürchtet, werden unpassierbar.
Das Theaterkollektiv andcompany&Co hat den Roman weitergedacht und auf die Bühne des Berliner HAU-Theaters gebracht. „Land aller Kinder“, ein „Erwachsenenstück für Kinder“, bringt Licht ins Dunkel der Bürokratiehölle, die das Thema Flucht und Migration abgrundartig umgibt. Was ist Asyl? Was sind Menschenrechte? Zufriedenstellende Antworten, das sieht man den Kinderdarstellerinnen (Rokia Karschnia und Zümra Köseoglu) an, liefern die Erwachsenen selten.
Zumindest die Bedeutsamkeit von Pässen kann der Zahnarzt und „Mini-Buchhändler“ Damon (Damon Taleghani) veranschaulichen. Denn was ist ein Pass anderes als ein Mini-Buch? Damon träumt von einer Welt, in der jeder seine Geschichte in ein Mini-Buch schreibt und so, legal und bestempelt, alle Grenzen übertreten darf.
Der Nationalsozialismus liegt lange zurück. Kindern die Wirren der Zeit verständlich zu machen, ist eine Herausforderung, mit der sich Pädagogen heute, 80 Jahre später, konfrontiert sehen. Nun ist Universalismus ein Werkzeug, mit dem eher zu oft als zu selten historische Besonderheiten aus dem Weg geräumt werden.
Verhöre mit der Ausländerbehörde
Es gibt allerdings eine Ausnahme, die Pauschalisierung gestattet: Aus der Perspektive eines Kindes ist Flucht immer total, egal ob es vor den Nazis, den Mullahs oder Assad-Schergen zu fliehen gilt. So verknüpft andcompany&Co Kullys mit heutigen Fluchterfahrungen, wie der von Luna (Luna Ali), die als Kind aus Syrien nach Deutschland floh – mit dem Flugzeug, wie sie in endlosen Verhören mit der Ausländerbehörde immer wieder erklären muss.
Fantasievoll spiegelt sich das Migrationschaos im Bühnenbild (Hila Flashkes) aus Büchern und Zähnen, die Damon mit einer übergroßen Zahnspange verkabelt. Irgendwann gerät alles durch- und ineinander: das belgische Ostende, Deutschland, Iran und überhaupt die Zeiten.
Das dürfte jedoch durchaus im Sinne Irmgard Keuns gewesen sein, ließ die doch nicht nur in ihren Texten, sondern auch in Bezug auf Lebensdaten, auf Namen und Fakten immer wieder der Fantasie freien Lauf.
taz.de