Faul sind wir und guter Hoffnung

André Mumot, Nachtkritik, 2009-06-13

"Also ich bin Marleny, und das ist meine Minute in diesem Stück." Das Mädchen im Harlekinkostüm kommt lächelnd nach vorn, echauffiert sich dann ganz unvermittelt über "die momentane Lage" und drischt dabei mit einem Jonglierkegel wie wild auf eine der zahlreichen Holzkisten des Bühnenbilds ein.
Das ist sehr lustig anzusehen und anzuhören und klingt in etwa so: "Unser ganzes Wirtschaftssystem ist doch von Grund auf falsch, das zeigt sich ja jetzt, außerdem regnet es dauernd, und die Jugendlichen sollen alles wieder richten, das war ja schon immer so, und rote Rosen werden auch keine regnen!"
Das ist ein Ausbruch, der gerade deshalb so erfrischend wirkt, weil der größte Teil des Performance- Theaters an diesem Abend im Hannoverschen Ballhof recht sanft daherkommt. 16 Jugendliche sitzen im Dunkeln auf ihren Kisten oder versteckt hinter schiefen Wänden im Hintergrund. Einige von ihnen tragen einzelne Klangstäbe eines Glockenspiels bei sich, und wenn sie ihren jeweiligen Ton anschlagen, geht auch die Glühbirne über ihrem Kopf an.

Praktische Erfahrungen im Nichtstun
Manchmal rocken sie, manchmal singen sie Mozart, führen kleine Akrobatiknummern auf, die meiste Zeit kündigen sie aber nur an, was noch passieren soll und nicht passieren wird: "In der zweiten Minute des Stückes werde ich viereckige Löcher in die Luft starren." Oder: "In der fünften Minute des Stücks werde ich illegale Downloads machen." Und eines der Mädchen sagt: "In der zwanzigsten Minute werde ich die Welt retten, indem ich besser und höher singe als Mariah Carey." Das Performance-Kolelktiv "andcompany&Co" hat sich mit dem jungen Schauspiel Hannover zusammengetan und im Rahmen des "Theaterformen Festivals" ein "Projekt über Faulheit und Müßiggang mit Jugendlichen aus Hannover" durchgeführt. Gesucht und gefunden haben Nicola Nord, Alexander Karschina und Sascha Sulimma hierfür nach eigenen Angaben "junge Leute mit
praktischen Erfahrungen im Nichtstun, qualifiziert in Müßiggang und Zeitvertreib." Diese schlecht beleumundeten Experten dürfen bei ihnen aber zu ganz großer Form auflaufen, zu Helden werden.

Anna Blume, ich habe diesmal kein Foto für dich
Wo immer "andcompany&Co" auftreten, sei es in Berlin, in Hamburg oder beim Steirischen Herbst in Graz – sie scheinen ein verzücktes Publikum zurückzulassen. Ihre "Ost-West-Trilogie" über die ideologischen Nachwehen des Kommunismus, deren letzter Teil "Mausoleum Buffo" Anfang dieses Jahres Premiere hatte, ließ auch Kritiker zu Verliebten werden. Und ihr Stück "SHOWTIME! Trial&Error" schließlich, Amalgam aus Hamletmaschine und Glücksrad, wurde jüngst von den Lesern dieser Seite auf den zweiten Platz ihrer eigenen Theatertreffen-Liste gewählt. Vielleicht weil diese Performer, wie hier in Hannover, ein Zitate- und Assoziationsgestöber entfachen können, das so klug komponiert und so präzise choreographiert ist, dass es sich nie den Vorwurf gefallen lassen muss, beliebig und selbstgenügsam zu sein.
"Anna Blume, ich habe heute leider kein Foto für dich", heißt es in "City Circus Zero Work" einmal. Man hat sich nämlich gut auf den Ort des Geschehens eingeschossen, stützt sich auf Hannovers Dada-Ikone Kurt Schwitters und nimmt einige seiner Texte mit ins Popkultur-Boot. Der Effizienz- und Wettbewerbs- und Castingmanie unserer Krisenzeit wird so der freiheitsstiftende Unsinn des Dadaismus entgegengehalten – und der Zirkus als urtypischer Ort aller Spielereien, die nicht dem Nützlichkeitsdiktat unterworfen sind.

Einfach mal auf die Bühne kacken
Die als Clowns, Domteusen und Pinguine verkleideten Jugendlichen fordern in der Merzmanege "progressive Arbeitslosigkeit und Pflicht zur Faulheit" und greifen überhaupt gern zu deutlichen Worten: "Einfach mal auf die Bühne kacken und sagen, wenn was scheiße ist!" Große zweidimensionale Pappuhren und Zahnräder werden von ihnen in Bewegung gesetzt, aber auch wieder angehalten: Die Zeit darf gern auch rückwärts laufen und Arbeitsziele ad absurdum führen. Obama und Marx, Britney Spears und Paris Hilton, die als Pappkameraden und Identifikationsfiguren ebenso über die Bühne wandeln wie Paulchen Panther, scheinen dazu alle dieselbe Frage zu stellen: "Ist es wirklich schon so spät?"
Die Antwort lautet "Ja", denn schließlich kommt die Flut. Aber keine Panik bricht aus. Nun, wo die alte Ordnung untergegangen ist, singen alle gemeinsam doch noch "Für mich soll’s rote Rosen regnen", bewegen sich pantomimisch schwimmend durch eine Unterwasserwelt und besteigen eine imaginäre Arche, die die Generation Youtube an neue Ufer bringen und einer neuen Evolution überlassen wird. Und das mit Glanz und Gloria. Denn zu diesem Finale marschiert auch noch das Jugendblasorchester des kleinen niedersächsischen Städtchens Seelze auf und bläst allen Defätismus fort.
Der verschreckten Weltuntergangsstimmung unserer Leistungsgesellschaft hält dieses Theaterkollektiv eine poetisch-warmherzige, aber eben doch ziemlich anarchische Kunstutopie entgegen. Wo das Nützliche versagt, triumphiert das Spiel. Wo die arrivierte Elite absäuft, singt die Jugend lässig und verträumt ihr Lied von der ehrlichen Faulheit, lächelt siegesgewiss und macht auch uns,
wenigstens für den Moment, sehr glücklich damit.

Nachtkritik

Erinnerungsbüro: Erzähl doch mal

Christine Wahl, Der Tagesspiegel, 2009-06-17

(…) Solche Schwierigkeiten treten bei der scharfsinnigen Resteverwertung überkommener Ideologien, die die Berliner Truppe andcompany&Co. in ihren Performances sampelt, garantiert nicht auf. In Hannover hat andcompany unter dem Motto „City Circus Zero Work“ Schüler vom „jungen schauspiel“ mit einer subversiven Zirkusidee und jeder Menge Britney-Spears-, Honecker- und Obama Devotionalien zusammengebracht und dabei in aller Lässigkeit bewiesen, welchen Charme intellektueller Restmüll haben kann – zumal, wenn er von derart engagierten Jugendlichen performt wird (…)

Der Tagesspiegel

Ein Käfig voller Narren

Till Briegleb, sueddeutsche.de, 2009-06-24

(…) Die schönste Absurdität dieses Festivals aber war ein Stück über Faulheit, das die Berliner andcompany&Co mit dem Jungen Schauspiel Hannover entwickelt hat. In einer grandiosen Materialschlacht aus Kostümen, Kulissen, spinnerten Einfällen, Musik und verdrehten Texten, die von Kurt Schwitters, Daniil Charms und den Jugendlichen selbst stammen, konstruieren sie eine schnelle, urkomisch dadaistische Revue ohne Löcher und Hänger. Letztlich sinnfrei, aber absolut erquickend bot "City Circus Zero Work" eine zeichendichte Spielwiese für den modernen Humor.(…)

sueddeutsche.de